B00B5B7E02 EBOK
Gehirne Introvertierter und Extravertierter, um den biologischen Ursprüngen des menschlichen Temperaments auf die Spur zu kommen.
Einer dieser Wissenschaftler ist der 82-jährige Jerry Kagan, einer der großen Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts. Kagan widmete seine Forschung der emotionalen und kognitiven Entwicklung von Kindern. In einer Reihe bahnbrechender Langzeitstudien untersuchte er Kinder vom Säuglingsalter bis hin zur Jugend und dokumentierte dabei Merkmale ihrer Physiologie und Persönlichkeit. Solche Langzeitstudien sind zeitraubend, teuer und deswegen selten – aber wenn sie sich auszahlen, wie es für Kagans Studien gilt, dann auch gleich im großen Maßstab.
Für eine dieser Studien, die 1989 begann und immer noch läuft, 1 untersuchten Professor Kagan und sein Team 500 Säuglinge im Alter von vier Monaten im »Laboratory for Child Development« in Harvard und erklärten, dass sie nach einer 45-minütigen Einschätzung vorhersagen könnten, welche Säuglinge sich eher zu introvertierten und welche zu extravertierten Menschen entwickeln würden. Bei einem Baby von vier Monaten könnte das als gewagte Behauptung erscheinen. Aber Kagan hatte sich schon lange mit der Frage des Temperaments befasst, und er hatte eine Theorie darüber entwickelt.
Kagan und sein Team setzten die Säuglinge einer sorgfältig durchdachten Reihe neuer Eindrücke aus. Man spielte ihnen Stimmen und das Geräusch platzender Luftballons vom Tonband vor, ließ bunte Mobiles vor ihren Augen tanzen und hielt ihnen alkoholgetränkte Wattestäbchen unter die Nase. Die Säuglinge zeigten stark variierende Reaktionen auf die unbekannten Reize. Etwa 20 Prozent schrien laut und strampelten heftig mit Armen und Beinen. Kagan nannte diese Gruppe »hoch reaktiv«. Ungefähr 40 Prozent blieben ruhig und gelassen und bewegten ihre Arme und Beine nur ab und zu, aber nicht allzu heftig. Diese Gruppe nannte Kagan »gering reaktiv«. Die übrigen 40 Prozent lagen in einem Mittelfeld zwischen diesen beiden Extremen. In einer überraschenden Hypothese, die der Logik zuwiderzulaufen scheint, sagte Kagan vorher, dass die Säuglinge in der hoch reaktiven Gruppe – jene, die heftig gestrampelt hatten – sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu stillen Teenagern entwickeln würden.
Viele dieser Kinder nahmen im Alter von zwei, vier, sieben und elf Jahren an Folgeuntersuchungen teil, bei denen ihre Reaktionen auf unbekannte Menschen und Ereignisse getestet wurden. Im Alter von zwei Jahren wurden den Kindern eine Frau in Gasmaske und Laborkittel, ein Mann im Clownskostüm und ein ferngesteuerter Roboter vorgeführt. Mit sieben wurden sie gebeten, mit Kindern zu spielen, die sie nicht kannten. Mit elf stellte ein unbekannter Erwachsener ihnen Fragen zu ihrem Leben. Kagans Team beobachtete, wie die Kinder auf diese neuen Situationen reagierten, wie oft und spontan sie lachten, sprachen und lächelten. Sie fragten die Kinder und Eltern auch, wie die Kinder sich außerhalb des Labors verhielten. Zogen sie einen oder zwei Freunde oder eine fröhliche Gruppe vor? Lernten sie gern neue Orte kennen? Waren sie risikofreudig oder eher vorsichtig? Hielten sie sich selbst für schüchtern oder wagemutig?
Viele Kinder entwickelten sich genauso, wie Kagan es erwartet hatte. Die hoch reaktiven Säuglinge, jene 20 Prozent, die beim Anblick der tanzenden Mobiles heftig gebrüllt und gestrampelt hatten, entwickelten eher eine ernste, vorsichtige Persönlichkeit. Die gering reaktiven Säuglinge, die sich ruhig verhalten hatten, wurden eher lockere und zuversichtliche Typen. Hohe und geringe Reaktivität entsprachen mit anderen Worten tendenziell der Introversion und Extraversion. Wie Professor Kagan sagte: »C. G. Jungs Beschreibungen von Introvertierten und Extravertierten, die vor über 75 Jahren entstanden, treffen mit unheimlicher Genauigkeit auf einen Teil unserer hoch und gering reaktiven Jugendlichen zu.« 2
In seinem Buch Galen’s Prophecy beschreibt Kagan zwei dieser Jugendlichen: den introvertierten Tom und den extravertierten Ralph. 3 Die Unterschiede zwischen den beiden sind auffällig. Tom, der als Kind ungewöhnlich scheu war, ist gut in der Schule, vorsichtig und reserviert, seiner Freundin und seinen Eltern treu ergeben, neigt zu Sorgen und liebt es, für sich allein zu lernen und über intellektuelle Probleme nachzudenken. Er möchte Wissenschaftler werden. »Wie … andere berühmte Introvertierte, die scheue Kinder waren«, schreibt Kagan
Weitere Kostenlose Bücher