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verhält es sich am ersten Schultag? Fühlt es sich unsicher auf einer Geburtstagsfeier mit vielen Kindern, die es nicht kennt? Aber was wir dabei in Wirklichkeit beurteilen, ist die Sensibilität eines Kindes gegenüber etwas Neuem im Allgemeinen, nicht nur gegenüber Menschen.
Die Entdeckungen, die Kagan über viele Jahrzehnte gemacht hat, stellen einen Durchbruch in unserem Verständnis von Introversion und Extraversion dar – und das gilt auch für die von uns getroffenen Werturteile. Extravertierten bescheinigt man manchmal, »sozial eingestellt«, sprich am Wohle anderer interessiert zu sein, und Introvertierten wird zuweilen nachgesagt, dass sie keine Menschen mögen. Aber die Reaktionen der Säuglinge bei Kagans Versuchen hatten nichts mit Menschen zu tun. Die Babys schrien (oder schrien nicht) beim Geruch von Wattestäbchen. Sie strampelten heftig (oder blieben ruhig) als Reaktion auf platzende Luftballons. Die hoch reaktiven Babys waren keine angehenden Misanthropen, sie reagierten einfach sensibel auf ihre Umwelt.
Die Sensibilität des Nervensystems dieser Kinder scheint sich nicht nur auf die Wahrnehmung beängstigender Dinge zu beziehen, sondern auf Wahrnehmung im Allgemeinen. Hoch reaktive Kinder schenken Menschen und Dingen »hellwache Aufmerksamkeit«, wie Psychologen es nennen. 4 Wenn sie Wahlmöglichkeiten vergleichen, zeigen sie mehr Augenbewegungen als andere, bevor sie sich entscheiden. Es ist, als ob sie die Informationen, die sie von der Außenwelt empfangen, gründlicher verarbeiten würden – manchmal bewusst, manchmal nicht. In einer frühen Untersuchungsreihe ließ Kagan eine Gruppe von Erstklässlern ein Zuordnungsspiel spielen. Dabei wurde jedem Kind ein Bild mit einem Teddybären vorgelegt, der auf einem Stuhl saß, sowie sechs weitere Bilder, von denen nur eins mit dem ersten exakt übereinstimmte. Die hoch reaktiven Kinder nahmen sich mehr Zeit als die anderen, um sich die Alternativen anzuschauen, und trafen eher die richtige Entscheidung. Als Kagan mit denselben Kindern Spiele mit Wörtern durchführte, stellte er fest, dass sie auch genauer lasen als impulsive Kinder.
Diese Kinder zeigen auch tiefere Gedanken und Gefühle im Hinblick auf ihre Wahrnehmungen und bringen mehr Zwischentöne in alltägliche Erfahrungen. 5 Das kann sich ganz verschieden äußern. Wenn das Kind kontaktorientiert ist, denkt es vielleicht viel darüber nach, was es bei anderen beobachtet hat: warum Jason heute nicht sein Spielzeug mit einem anderen Kind teilen wollte oder warum Mary so böse auf Nicholas wurde, als er sie versehentlich angerempelt hat. Wenn es spezielle Neigungen hat – Rätsel lösen, malen oder Sandburgen bauen –, wird es sich oft ungewöhnlich stark konzentrieren.
Untersuchungen zeigen, dass ein hoch reaktives Kind, das versehentlich das Spielzeug eines anderen Kindes zerbricht, eine intensivere Mischung aus Schuldgefühlen und Kummer als ein gering reaktives Kind erlebt. Natürlich nehmen alle Kinder ihre Umwelt wahr und erleben Gefühle, aber hoch reaktive Kinder scheinen mehr aufzunehmen und stärker zu fühlen. Wenn Sie ein hoch reaktives siebenjähriges Kind fragen, wie eine Gruppe von Kindern ein begehrtes Spielzeug gerecht untereinander teilen sollte, dann, so schreibt die Wissenschaftsjournalistin Winifred Gallagher, schlägt das Kind oft anspruchsvolle Strategien vor, wie zum Beispiel: »Wir könnten alphabetisch vorgehen. Das Kind, dessen Nachname am dichtesten beim A liegt, darf anfangen.« 6
»Die Umsetzung von Theorie in Praxis ist schwierig für diese Kinder«, schreibt Gallagher, »weil ihr sensibles Wesen und ihre durchdachten Pläne sich nicht für die verschiedenartigen Schwierigkeiten auf dem Schulhof eignen.« Doch wie in den folgenden Kapiteln deutlich wird, erweisen sich diese Merkmale – Wachheit, Sensibilität gegenüber Zwischentönen, komplexe Emotionalität – als einige der wichtigsten Stärken von Introvertierten.
Kagan hat uns akribisch aufgezeichnete Beweise geliefert, dass hohe Reaktivität eine biologische Basis der Introversion darstellt, aber seine Ergebnisse sind teilweise auch deswegen so beeindruckend, weil sie bestätigen, was wir bereits geahnt haben. Einige von Kagans Untersuchungen wagen sich sogar in den Bereich unserer kulturellen Gemeinplätze vor. Beispielsweise glaubt Kagan, basierend auf seinen Daten, dass hohe Reaktivität mit physischen Merkmalen wie blauen Augen, Allergien und Heuschnupfen einhergeht und dass hoch
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