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charmantesten und wortgewandtesten Frauen, die ich kenne. Wenn man sie zu einer Party einlädt und später die anderen Gäste fragt, wen sie am nettesten fanden, nennen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Sally. Sie ist so brillant, heißt es dann, so geistreich, so bezaubernd!
Sally weiß, wie gut sie ankommt – man kann nicht so anziehend sein wie sie, ohne es zu merken. Aber das bedeutet nicht, dass ihr Mandelkern es weiß. Wenn sie auf einer Party eintrifft, möchte sich Sally oft am liebsten hinter der nächsten Couch verkriechen – bis ihr präfrontaler Kortex die Führung übernimmt und sie sich daran erinnert, wie gut sie Konversation machen kann. Und dennoch siegt zuweilen ihr Mandelkern mit seinen ein Leben lang angesammelten Assoziationen, die fremde Menschen mit Angst verknüpfen. Sally gibt zu, dass sie manchmal eine Stunde mit dem Auto zu einer Party fährt, um fünf Minuten nach der Ankunft wieder zu gehen.
Wenn ich an meine eigenen Erfahrungen im Lichte von Schwartz’ Forschungsergebnissen denke, wird mir klar, dass die Annahme, ich sei nicht mehr schüchtern, nicht wahr ist. Ich habe einfach gelernt, mich selber zu beschwichtigen (danke, Frontalkortex!). Aber inzwischen läuft dieses Beschwichtigen so automatisch, dass es mir kaum auffällt. Wenn ich mich mit einem Fremden oder einer Gruppe von Menschen unterhalte, lächle ich freundlich und bin offen, aber für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl, als würde ich ein Hochseil betreten. Inzwischen habe ich Tausende von zwischenmenschlichen Erfahrungen gemacht und dadurch gelernt, dass das Hochseil nur in meiner Einbildung existiert oder dass ich nicht sterben werde, falls ich abstürze. Ich beruhige mich so schnell, dass es mir kaum noch auffällt. Dennoch findet der Beschwichtigungsprozess immer noch statt – und gelegentlich funktioniert er nicht. Der Begriff, den Kagan anfänglich benutzte, um hoch reaktive Menschen zu beschreiben, lautete gehemmt , und genauso fühle ich mich bei manchen Einladungen zu Dinnerpartys.
Diese Fähigkeit, sich innerhalb bestimmter Grenzen über die eigene Persönlichkeit hinaus zu dehnen, gilt auch für Extravertierte. Eine meiner Klientinnen, Alison, ist Unternehmensberaterin, Mutter und Ehefrau und hat die Art von extravertierter Persönlichkeit – freundlich, offen und ständig aktiv –, die Menschen dazu veranlasst, sie als »Naturgewalt« zu beschreiben. Alison führt eine glückliche Ehe, hat zwei heiß geliebte Töchter und eine eigene Unternehmensberatungsfirma, die sie aus eigener Kraft aufgebaut hat. Sie ist mit Recht stolz auf das, was sie im Leben erreicht hat.
Aber sie ist nicht immer so zufrieden gewesen. Als sie ihren Highschool-Abschluss machte, nahm sie sich selbst kritisch unter die Lupe und war von dem, was sie sah, nicht angetan. Alison ist extrem intelligent, aber ihr Abschlusszeugnis spiegelte das nicht wider. Es war ihr Herzenswunsch gewesen, an einer der Elite-Universitäten an der Ostküste zu studieren, doch diese Möglichkeit hatte sie vertan.
Und sie wusste auch, warum. Sie war während ihrer Highschool-Zeit ständig unterwegs – Alison ließ so gut wie keine Freizeitaktivität aus, die ihre Schule anbot –, und so blieb ihr nicht viel Zeit zum Lernen. Zum Teil gab sie ihren Eltern die Schuld, die stolz auf die Kontaktfähigkeit ihrer Tochter waren und nicht darauf bestanden, dass sie mehr für die Schule tat. Aber am meisten gab sie sich selbst die Schuld.
Als Erwachsene ist Alison fest entschlossen, ähnliche Fehler nicht zu wiederholen. Sie weiß, wie leicht es wäre, sich im Trubel von schulischer Elternarbeit und beruflichen Netzwerken zu verzetteln. Deshalb besteht Alisons Lösung darin, bei ihrer Familie nach funktionierenden Strategien zu suchen. Sie ist zufällig das einzige Kind zweier introvertierter Eltern, mit einem introvertierten Mann verheiratet und hat eine jüngere Tochter, die ebenfalls stark introvertiert ist.
Alison hat Mittel und Wege gefunden, sich auf die Wellenlänge der stillen Menschen in ihrer Umgebung zu begeben. Wenn sie ihre Eltern besucht, meditiert sie und schreibt Tagebuch, wie ihre Mutter es tut. Zu Hause genießt sie friedliche Abende mit ihrem Ehemann, der ein Stubenhocker ist. Und ihre jüngere Tochter, die gern mit ihrer Mutter vertraulich im Garten plaudert, sorgt dafür, dass Alison ihre Nachmittage mit tiefen Gesprächen verbringt.
Alison hat sich sogar ein Netzwerk von stillen, nachdenklichen Freunden geschaffen.
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