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Obwohl ihre allerbeste Freundin Amy ebenso wie sie hochgradig extravertiert ist, sind die meisten ihrer anderen Freunde introvertiert. »Ich schätze Menschen, die gut zuhören können«, sagt Alison. »Das sind die Freunde, mit denen ich Kaffee trinken gehe. Von ihnen erhalte ich die treffendsten Kommentare. Manchmal merke ich nicht einmal, dass ich gerade etwas Kontraproduktives getan habe, bis mir meine introvertierten Freunde sagen: ›Schau mal, was du gerade tust, und hier sind 15 weitere Beispiele für dasselbe Verhalten von dir.‹ Meiner Freundin Amy hingegen würde das nicht einmal auffallen. Aber meine introvertierten Freunde lehnen sich zurück und beobachten, und das schafft eine wirkliche Verbindung zwischen uns.« Alison bleibt ihr ungestümes Selbst, aber sie hat entdeckt, wie sie still sein und von der Stille profitieren kann.
Auch wenn wir gelegentlich imstande sind, bis an die äußersten Grenzen unserer Persönlichkeit zu gehen, kann es oft besser sein, uns ganz innerhalb unserer Wohlfühlzone aufzuhalten.
Nehmen wir das Beispiel meiner Klientin Esther, Steueranwältin in einem großen Anwaltsbüro. Esther, eine zierliche Brünette mit federndem Schritt und strahlend blauen Augen, war nicht schüchtern und ist es auch nie gewesen. Aber sie war entschieden introvertiert. Am meisten liebte sie die stillen zehn Minuten, die sie brauchte, um auf der friedlichen, von Bäumen gesäumten Straße ihres Viertels zum Bus zu gehen. Am zweitliebsten war ihr der Augenblick, in dem sie ihre Bürotür hinter sich zumachen und sich in die Arbeit vergraben konnte.
Esther hatte ihren Beruf gut gewählt. Als Tochter eines Mathematikers liebte sie es, sich in hochkomplexe Steuerprobleme hineinzudenken, und sie konnte sie mühelos mit anderen besprechen. (In Kapitel 7 werden wir untersuchen, warum Introvertierte so gut beim gezielten Lösen komplexer Probleme sind.) Sie war die Jüngste in einem eng vernetzten Team, das in einer sehr viel größeren Kanzlei zusammenarbeitete. Die Gruppe setzte sich aus fünf Steueranwälten zusammen, die sich gegenseitig in ihrer Karriere unterstützten. Esthers Arbeit bestand darin, sich gründlich in Fragen zu vertiefen, die sie faszinierten, und gut mit ihren zuverlässigen Kollegen zu kooperieren.
Doch Esthers kleine Arbeitsgruppe musste in regelmäßigen Abständen vor der übrigen Kanzlei Präsentationen halten. Diese Präsentationen machten Esther sehr zu schaffen, nicht weil sie Angst davor hatte, einen Vortrag zu halten, sondern weil es ihr schwerfiel, aus dem Stegreif zu sprechen. Esthers Kollegen hingegen – zufällig alles Extravertierte – waren spontane Redner, die sich auf dem Weg zur Präsentation überlegten, was sie sagen würden, und ihre Gedanken verständlich und anschaulich mitteilten, sobald sie den Konferenzraum betraten.
Wenn Esther die Chance hatte, sich vorzubereiten, war alles gut, aber manchmal vergaßen ihre Kollegen, sie darüber zu informieren, dass ein Vortrag anstand, bis sie morgens im Büro erschien. Sie vermutete, dass die Fähigkeit ihrer Kollegen, aus dem Stegreif zu sprechen, ein Ausdruck ihres überlegenen Wissens auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung war und sie mit zunehmender Erfahrung ebenfalls improvisieren könnte. Aber selbst als Esther länger im Beruf war und mehr Routine hatte, war das nicht der Fall.
Um Esthers Problem zu lösen, wollen wir einen Blick auf einen weiteren Unterschied zwischen Introvertierten und Extravertierten werfen: ihren unterschiedlichen Bedarf an äußerer Stimulation.
Seit den späten 1960er Jahren vertrat der einflussreiche Psychologe Hans Eysenck mehrere Jahrzehnte lang die Hypothese, dass Menschen sich »genau das richtige« Maß an Stimulation suchen – nicht zu viel und nicht zu wenig. 5 Stimulation ist das Ausmaß an Input, das wir von der Außenwelt nach innen lassen. Sie kann alle möglichen Formen annehmen, von Lärm über zwischenmenschlichen Kontakt bis hin zu aufblitzenden Lichtern. Wie Eysenck glaubte, bevorzugen Extravertierte mehr Stimulation als Introvertierte, was seiner Meinung nach viele Unterschiede zwischen ihnen erklärt: Introvertierte genießen es in der Regel, die Bürotür hinter sich zuzumachen und sich ganz ihrer Arbeit zu widmen, weil diese Art von ruhiger intellektueller Tätigkeit für sie optimal stimulierend ist, während Extravertierte am besten bei Tätigkeiten mit höherer Stimulation funktionieren, wie etwa der Organisation von Workshops zur Teambildung
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