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Schwartz bei einigen der hoch reaktiven Teenager feststellte, auch das Gegenteil: Wir haben einen freien Willen und können ihn zur Gestaltung unserer Persönlichkeit einsetzen. Tatsächlich ist die Vorstellung von einem freien Willen fest in unserem kulturellen Erbe verankert, angefangen von den Schriften der griechischen Philosophen (»Den Dieb deines freien Willens gibt es nicht«, schrieb Epiktet) bis hin zu den Werbeslogans unserer Selbsthilfegurus (»Was hält Sie davon ab, das Leben zu führen, das Sie wollen?«, fragt Tony Robbins auf seiner Internetseite).
Nur auf den ersten Blick scheinen sich hier Widersprüche aufzutun. Der freie Wille kann uns weit bringen, wie Dr. Schwartz’ Forschung belegt, aber er kann uns nicht unendlich weit über unsere genetischen Grenzen hinaustragen. Ein Bill Gates wird niemals ein Bill Clinton sein, ganz gleich, wie sehr er seine sozialen Fähigkeiten aufpoliert, und ein Bill Clinton kann niemals ein Bill Gates sein, ganz gleich, wie viel Zeit er allein am Computer verbringt.
Wir könnten das die »Gummibandtheorie« der Persönlichkeit nennen. Wir ähneln einem Gummiband von einer bestimmten Länge. Wir sind elastisch und können uns dehnen, aber nur bis zu einem bestimmten Grad.
Um zu verstehen, in welcher Weise das auf Hochreaktive zutrifft, wollen wir uns anschauen, was sich in unserem Gehirn abspielt, wenn wir uns mit einem Fremden auf einer Cocktailparty bekannt machen. Wie schon erwähnt, sind der Mandelkern und das limbische System, in dem der Mandelkern eine Schlüsselstellung einnimmt, ein alter Teil des Gehirns – so alt, dass die meisten primitiven Säugetiere eine eigene Version dieses Systems besitzen. Doch als die Säugetiere komplexer wurden, entwickelte sich um das limbische System herum ein Hirnareal, das man den Neokortex nennt. Der Neokortex, und bei Menschen besonders der Frontalkortex, ist für eine erstaunliche Bandbreite von Funktionen zuständig, von der Entscheidung, welche Zahnpastamarke wir kaufen, über die Planung einer Konferenz bis hin zum Nachdenken über das Wesen der Wirklichkeit. Eine seiner Funktionen besteht darin, unbegründete Ängste zu beschwichtigen.
Wenn Sie ein hoch reaktives Baby waren, spielt Ihr Mandelkern vielleicht Ihr ganzes Leben lang ein bisschen verrückt, sobald Sie sich einem Fremden auf einer Cocktailparty vorstellen. 2 Doch wenn Sie sich in der Gesellschaft anderer relativ wohlfühlen, liegt es teilweise daran, dass Ihr Frontalkortex Ihnen die Botschaft gibt, sich zu beruhigen, dem anderen die Hand zu schütteln und zu lächeln. In der Tat zeigt eine neuere, mit der funktionellen Magnetresonanztomografie durchgeführte Studie, dass bei Menschen, die sich selbst in aufregenden Situationen beschwichtigend zureden, die Aktivität im Mandelkern im gleichen Maße abnimmt, wie die Aktivität des präfrontalen Kortex zunimmt. 3
Aber der Frontalkortex ist nicht allmächtig; er kann den Mandelkern nicht komplett abschalten. Bei einem Experiment konditionierten Wissenschaftler Ratten so, dass sie einen bestimmten Ton mit einem Elektroschock in Verbindung brachten. Danach spielten die Wissenschaftler den Ton so lange ab, ohne ihnen den Schock zu verpassen, bis die Ratten ihre Angst verloren.
Aber wie sich herausstellte, war das »Verlernen« nicht so komplett, wie die Wissenschaftler zuerst dachten. Als sie die neuralen Verbindungen zwischen dem Kortex und dem Mandelkern der Ratten trennten, bekamen die Ratten wieder Angst vor dem Ton. Der Grund dafür war, dass durch die Aktivität des Kortex die Angstkonditionierung zwar unterdrückt worden war, aber im Mandelkern noch weiterbestand. 4 Bei Menschen mit unbegründeten Ängsten, wie der Akrophobie (Höhenangst), spielt sich etwas Ähnliches ab. Wiederholte Ausflüge auf die Spitze des Empire State Building können die Angst scheinbar zum Verschwinden bringen, aber in Zeiten von Stress, in denen der Kortex noch etwas anderes zu tun hat, als nur den empfindsamen Mandelkern zu beruhigen, kann die Angst wieder in voller Stärke auftreten.
Das hilft uns zu verstehen, warum hoch reaktive Kinder bestimmte ängstliche Aspekte ihres Temperaments bis hin ins Erwachsenendasein behalten, ganz gleich, wie viel Erfahrung im Umgang mit anderen sie erwerben oder wie viel freien Willen sie einsetzen. Meine Kollegin Sally ist ein gutes Beispiel für dieses Phänomen. Sally, eine nachdenkliche und talentierte Lektorin, beschreibt sich selbst als scheue Introvertierte und ist eine der
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