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B00B5B7E02 EBOK

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Titel: B00B5B7E02 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cain
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Esthers Problem, am Rednerpult zu improvisieren, besser. Überreizung beeinträchtigt die Aufmerksamkeit und das Kurzzeitgedächtnis – Schlüsselkomponenten für die Fähigkeit, aus dem Stegreif zu sprechen. Und da ein Vortrag vor Zuhörern per se eine stimulierende Tätigkeit ist, werden Introvertierte wahrscheinlich feststellen, dass ihre Aufmerksamkeit dann beeinträchtigt ist, wenn sie sie am meisten brauchen. Esther könnte also ewig als Anwältin arbeiten oder die routinierteste Praktikerin auf ihrem Gebiet werden, ohne entspannt aus dem Stegreif sprechen zu können. Vielleicht wird sie dauerhaft nicht imstande sein, während des Vortrags auf ihren reichen Schatz an Informationen im Langzeitgedächtnis zurückzugreifen.
    Sobald Esther ihr Problem kennt, kann sie jedoch darauf bestehen, dass ihre Kollegen ihr vorher mitteilen, wann sie einen Vortrag halten muss. Sie kann ihre Rede gut vorbereiten und einüben, um in ihrem Optimalzustand zu sein, wenn sie schließlich ans Rednerpult tritt. Auf dieselbe Weise kann sie sich auch auf Termine mit Klienten, auf berufliche Tagungen und informelle Begegnungen mit ihren Kollegen vorbereiten – auf jede intensivere Situation, in der ihr Kurzzeitgedächtnis und ihre Fähigkeit, aus der Situation heraus zu denken, möglicherweise etwas eingeschränkter sind als gewöhnlich.
     
    Esther ist es gelungen, ihr Problem innerhalb ihrer Wohlfühlzone oder ihres Optimalzustands zu lösen. Doch manchmal bleibt uns nur die Wahl, an die Grenzen unserer Persönlichkeit zu gehen. Vor einigen Jahren beschloss ich, meine Angst, vor einer Gruppe zu sprechen, in den Griff zu bekommen. Nach einigem Hin und Her meldete ich mich zu einem Workshop am »Public Speaking and Social Anxiety Center« in New York an. Ich hatte meine Zweifel. Ich fühlte mich wie ein durchschnittlich schüchterner Mensch, und mir gefiel der pathologische Beiklang des Begriffs social anxiety (soziale Angst) nicht. Aber dem Seminar lag ein Desensibilisierungstraining zugrunde, ein Ansatz, der mir sinnvoll erschien. Oft als Methode zur Überwindung von Phobien eingesetzt, beinhaltet Desensibilisierung, dass man sich (und seinen Mandelkern) immer wieder einer erträglichen Dosis der Sache aussetzt, vor der man sich fürchtet. Das unterscheidet sich gewaltig von dem gut gemeinten, aber wenig hilfreichen Rat, einfach ins kalte Wasser zu springen und zu schwimmen, eine Methode, die funktionieren kann , aber wahrscheinlich eher Panik auslöst und den Teufelskreis von Schrecken, Angst und Scham noch tiefer im Gehirn eingräbt.
    Ich stellte fest, dass ich in guter Gesellschaft war. Ungefähr 15 Leute nahmen an dem Seminar teil, das von Charles di Cagno geleitet wurde, einem drahtigen, untersetzten Mann mit freundlichen braunen Augen und einem feinen Sinn für Humor. Charles ist ein Veteran der Konfrontationstherapie. Der Gedanke, vor anderen zu sprechen, raubt ihm zwar nachts nicht mehr den Schlaf, erklärt er, aber die Angst ist ein verschlagener Feind, und er arbeitet immer wieder daran, ihn zu besiegen.
    Der Kurs lief schon seit ein paar Wochen, als ich dazustieß, doch Charles versicherte mir, dass Neue immer willkommen seien. Die Gruppenteilnehmer waren unterschiedlicher, als ich erwartet hätte. Da war eine Modedesignerin mit einem wachen und freundlichen Gesichtsausdruck, langem lockigem Haar, einem leuchtenden Lippenstift und spitzen Schlangenlederstiefeln; eine Sekretärin mit dicken Brillengläsern und knappem, sachlichem Verhalten, die viel über ihre Mitgliedschaft in einem Hochbegabtenclub sprach; zwei befreundete Investmentbanker, groß und sportlich; ein Schauspieler mit schwarzem Haar und lebhaften blauen Augen, der in seinen Puma-Turnschuhen durch den Raum sprang, aber behauptete, die ganze Zeit Angst zu haben, und ein liebenswürdig lächelnder chinesischer Software-Designer mit einem nervösen Lachen. Ein normaler Querschnitt von New Yorkern, in der Tat. Es hätte sich auch um einen Kurs über Digitalfotografie oder italienische Küche handeln können.
    Nur dass er das nicht war. Charles erklärte, dass jeder mit Sprechen an die Reihe käme, aber auf einem Angstniveau, mit dem wir umgehen könnten.
    Lateesha, eine Trainerin in asiatischer Kampfkunst, war an diesem Abend als Erste dran. Sie sollte den Teilnehmern ein Gedicht von Robert Frost vorlesen. Mit ihren Rastalocken und ihrem gewinnenden Lächeln sah Lateesha aus, als hätte sie vor gar nichts Angst. Als sie beginnen wollte und ihr Buch offen

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