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die Haut, die sie vor den Emotionen anderer Menschen und den Tragödien und Grausamkeiten dieser Welt schützt, dünner wäre. Sie neigen zu einem ungewöhnlich strengen Gewissen, vermeiden Gewaltfilme im Kino und Fernsehen und sind sich der Folgen des eigenen Fehlverhaltens ungewöhnlich stark bewusst. In Gesellschaft anderer legen sie den Schwerpunkt oft auf Themen, wie etwa persönliche Probleme, die andere als »zu schwer« empfinden.
Aron merkte, dass sie etwas Großem auf der Spur war. Viele der Merkmale von sensiblen Menschen, die sie identifiziert hatte – Einfühlungsvermögen und Empfänglichkeit für Schönheit etwa – wurden von Psychologen anderen Persönlichkeitsmerkmalen wie »Freundlichkeit« und »Offenheit« zugeordnet. Aron erkannte jedoch, dass sie auch ein fundamentaler Bestandteil der hohen Sensibilität waren. Ihre Ergebnisse stellten implizit akzeptierte Lehren der Persönlichkeitspsychologie infrage.
Sie begann, ihre Ergebnisse in wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern zu veröffentlichen und über ihre Arbeit Vorträge zu halten. Zuerst war das nicht einfach. Von Zuhörern aus dem Publikum bekam sie zu hören, dass das, was sie zu sagen hatte, faszinierend sei, aber dass ihre rhetorische Unsicherheit sich ablenkend auswirkte. Doch Aron hatte ein großes Bedürfnis, ihre Botschaft publik zu machen. Sie hielt durch und lernte, wie die wissenschaftliche Autorität zu sprechen, die sie war. Als ich ihr auf der Walker Creek Ranch begegnete, wirkte sie erfahren, klar und sicher. Der einzige Unterschied zwischen ihr und einem durchschnittlichen Redner bestand darin, dass sie auf jede Frage aus dem Publikum gewissenhaft einging. Sie stellte sich der Gruppe auch nach ihrem Vortrag noch für Gespräche zur Verfügung, obwohl sie sich als extreme Introvertierte danach gesehnt haben muss, nach Hause zu fahren.
Arons Beschreibung der Hochsensiblen klingt, als würde sie über Eleanor Roosevelt höchstpersönlich sprechen. Tatsächlich haben Wissenschaftler im Laufe der Jahre, seit Aron ihre Forschungsergebnisse veröffentlicht hat, diese bestätigen können. Wenn man Menschen, deren genetisches Profil hypothetisch mit hoher Sensibilität und Introversion in Verbindung gebracht wird (Menschen, die die gleichen 5-HT-Gen-Varianten wie die in Kapitel 3 erwähnten Rhesusaffen besitzen), in einen Magnetresonanztomografen legt und ihnen dabei Bilder von angstverzerrten Gesichtern, Unfallopfern, verstümmelten Körpern und Umweltverschmutzung vorführt, wird ihr Mandelkern – der Teil des Gehirns, der eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung der Emotionen spielt – stark aktiviert. 8 Aron und ein Team von Wissenschaftlern haben auch herausgefunden, dass bei sensiblen Menschen, denen man Gesichter von Menschen zeigt, die starke Emotionen erleben, stärker als bei anderen Menschen eine Aktivierung von Hirnarealen stattfindet, die mit Einfühlungsvermögen und der Verarbeitung starker Emotionen zu tun haben. 9 Anscheinend können sie wie Eleanor Roosevelt nicht anders als fühlen, was andere fühlen.
1921 erkrankte Franklin D. Roosevelt an Kinderlähmung. Es war ein schrecklicher Schlag, und er erwog, sich aufs Land zurückzuziehen, um sein Leben als invalider Landedelmann zu beenden. Doch Eleanor erhielt in der Zeit seiner Genesung die Kontakte zur demokratischen Partei aufrecht und erklärte sich sogar bereit, eine Rede auf einer Spendengala zu halten. Sie hatte panische Angst davor, Reden zu halten, und war nicht sehr gut darin. Sie hatte eine hohe Stimme und lachte an den falschen Stellen. Doch sie übte für ihren Auftritt und brachte ihn hinter sich.
Danach hatte Eleanor ihre Unsicherheit immer noch nicht überwunden. Dennoch begann sie sich für die Beseitigung der sozialen Probleme einzusetzen, die sie um sich herum wahrnahm. Sie wurde eine Vorkämpferin für Frauenbelange und schmiedete Bündnisse mit Menschen von ähnlicher Ernsthaftigkeit. Als Roosevelt 1928 zum Gouverneur von New York gewählt wurde, leitete sie das Büro für Frauenangelegenheiten der Demokratischen Partei und war schon zu einer der mächtigsten Frauen in der nationalen Politik aufgestiegen. Sie und Roosevelt hatten jetzt eine voll funktionsfähige Partnerschaft erreicht, die aus seinem Savoir faire und ihrem sozialen Gewissen bestand. »Ich kannte mich mit sozialen Missständen vielleicht besser aus als er«, erinnerte sich Eleanor mit der ihr eigenen Bescheidenheit. »Aber er kannte sich mit dem
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