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15 Motivationen zuschreiben. Doch man weiß nicht wirklich, was in ihm vorgeht.«
Dennoch war auch äußerlich nicht sichtbares Verhalten immer noch Verhalten, dachte Aron, selbst wenn es sich schwer katalogisieren ließ. Was also war das äußerlich nicht sichtbare Verhalten von Menschen, deren sichtbarstes Merkmal darin bestand, dass sie nicht sonderlich erfreut reagierten, wenn man sie zu einer Party einlud? Sie beschloss, es herauszufinden.
Zunächst befragte sie 39 Menschen, die sich selbst als introvertiert bezeichneten oder angaben, rasch unter Reizüberflutung zu leiden. Sie fragte sie nach ihren Lieblingsfilmen, ihren ersten Erinnerungen, den Beziehungen zu ihren Eltern, ihren Freundschaften, ihrem Liebesleben, ihren kreativen Aktivitäten und philosophischen sowie religiösen Ansichten. Auf der Grundlage dieser Interviews entwickelte sie einen umfangreichen Fragebogen, den sie an verschiedene Gruppen mit vielen Menschen verteilte. Schließlich filterte sie aus den Antworten eine Konstellation von 27 Eigenschaften heraus. Sie nannte die Menschen, die diese Eigenschaften in sich vereinigten, »hochsensibel«.
Einige dieser 27 Eigenschaften waren aus Kagans Arbeiten und denen anderer Forscher bereits bekannt. Hochsensible Menschen sind beispielsweise meist gute Beobachter, die erst schauen, bevor sie springen. Sie organisieren ihr Leben so, dass sie Überraschungen möglichst ausschalten. Sie reagieren oft sensibel auf Anblicke, Geräusche, Gerüche, Schmerz und Kaffee. Sie haben Probleme, wenn sie beobachtet werden (etwa bei der Arbeit oder wenn sie ein Musikstück vortragen) oder ganz allgemein auf ihren Wert hin begutachtet werden (beim Kennenlernen oder einem Einstellungsgespräch).
Aber es gab auch neue Erkenntnisse. Hochsensible sind im Allgemeinen philosophisch oder religiös statt materialistisch oder hedonistisch orientiert. Sie mögen keine oberflächlichen Gespräche. Sie beschreiben sich oft als kreativ oder intuitiv (so wie Aron von ihrem Ehemann beschrieben wurde). Sie haben lebhafte Träume und können sich am nächsten Tag häufig an ihre Träume erinnern. Sie lieben Musik, Natur, Kunst und physische Schönheit. Sie haben außergewöhnlich starke Emotionen – manchmal Freude, aber auch Anfälle von Kummer, Melancholie und Angst.
Hochsensible Menschen verarbeiten auch Informationen über ihre physische und emotionale Umgebung ungewöhnlich gründlich. Sie bemerken öfter Feinheiten, die anderen entgehen – wie etwa einen Stimmungswechsel bei anderen Menschen oder die Helligkeitsschwankungen einer Glühbirne. Kürzlich hat eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Stony Brook University diese Resultate überprüft, indem sie 18 Menschen, die im Magnetresonanztomografen lagen, zwei Fotopaare von einem Zaun und von Heuballen zeigten. Die ersten zwei Fotos wiesen deutliche Unterschiede auf, bei den anderen zwei bestanden kaum merkliche Unterschiede.
Dann fragten die Wissenschaftler die Versuchspersonen, ob die zwei Fotos jeweils identisch seien oder nicht. Sie fanden heraus, dass die sensiblen Probanden sich beim Betrachten der Fotos mit den kaum merklichen Unterschieden mehr Zeit ließen als die anderen Versuchspersonen. Ihr Gehirn wies auch eine höhere Aktivität in Arealen auf, die dabei helfen, Verbindungen zwischen diesen Bildern und anderen gespeicherten Informationen herzustellen. Mit anderen Worten: Die Sensiblen verarbeiteten die Fotos komplexer als die anderen Probanden; sie setzten sich stärker mit ihnen auseinander. 7
Das Experiment ist ganz neu, und die Schlussfolgerungen müssen noch durch weitere Experimente verifiziert und in anderen Zusammenhängen untersucht werden. Aber es bestätigt die Ergebnisse von Jerome Kagans Studien, bei denen sich ergeben hatte, dass sich hoch reaktive Erstklässler mehr Zeit als andere Kinder ließen, wenn sie vermeintlich identische Bildpaare miteinander verglichen und unbekannte Wörter lasen. Und es legt nach den Worten der leitenden Wissenschaftlerin von Stony Brook nahe, dass hochsensible Typen auf ungewöhnlich komplexe Weise denken. Das hilft auch zu erklären, warum sie sich bei oberflächlichen Gesprächen langweilen. »Wenn man komplexer denkt«, so sagte sie mir, »dann sind Gespräche über das Wetter oder darüber, wo Sie Ihren Urlaub verbracht haben, nicht ganz so interessant wie Gespräche über Werte oder Moral.«
Das andere, was Aron über Hochsensible herausfand, ist, dass sie oft hochgradig mitfühlend sind. Es ist, als ob
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