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fällt mir ein, dass ich mich nicht äußern muss, wenn ich nicht will. Das hat eine befreiende Wirkung auf mich. Ich sage, dass ich noch nie in einer Gruppe gewesen bin, in der ich mich nicht verpflichtet gefühlt habe, ein unnatürliches und geschöntes Bild von mir zu präsentieren. Ich füge hinzu, dass ich an dem Zusammenhang zwischen Introversion und Sensibilität interessiert bin. Viele Teilnehmer nicken.
Am Samstagmorgen erscheint Elaine Aron in der Buckeye Lodge. Sie wartet spielerisch hinter einem Ständer, an dem ein Flipchart hängt, während Jacquelyn Strickland sie uns vorstellt. Dann kommt sie lächelnd – ta da! – hinter dem Ständer hervor, nüchtern gekleidet in einen Blazer, Rollkragenpullover und Cordrock. Sie hat kurzes, dünnes braunes Haar und warme, von Falten umgebene blaue Augen, die aussehen, als würde ihnen nichts entgehen. Man erkennt in Aron sofort die gestandene Wissenschaftlerin, die sie inzwischen ist, wie auch das linkische Schulmädchen, das sie einmal gewesen sein muss. Man sieht auch ihren Respekt für ihre Zuhörer.
Sie kommt gleich zur Sache und teilt uns mit, dass sie fünf Unterthemen zur Auswahl hat. Dann bittet sie uns, per Handheben darüber abzustimmen, welches das erste, zweite und dritte Thema sein soll. Anschließend nimmt sie blitzartig eine komplizierte Berechnung vor, mit deren Hilfe sie die drei Themen ermittelt, für die wir kollektiv gestimmt haben. Die Gruppe nimmt freundlich Platz. Es spielt nicht wirklich eine Rolle, welche Themen wir gewählt haben. Wir wissen, dass Aron so oder so hier ist, um über hohe Sensibilität zu sprechen, und dass sie unsere Vorlieben berücksichtigen wird.
Einige Psychologen machen sich einen Namen mit ungewöhnlichen wissenschaftlichen Experimenten. Arons Beitrag besteht darin, dass sie Untersuchungen, die andere durchgeführt haben, neu interpretiert, und zwar radikal neu. Als Mädchen bekam Aron oft zu hören, dass sie »zu sensibel« sei. Sie hatte zwei robuste ältere Geschwister und war das einzige Kind in der Familie, das sich gern in Tagträume flüchtete, drinnen spielte und gefühlsmäßig leicht verletzbar war. Als sie älter wurde und sich aus dem Kreis ihrer Familie hinausbewegte, stellte sie weiterhin Verhaltensweisen an sich fest, die von der Norm abzuweichen schienen. Sie konnte stundenlang allein Auto fahren, ohne das Radio anzumachen. Sie hatte eindrucksvolle, manchmal verstörende Nachtträume. Sie war »seltsam angespannt« und wurde oft von starken Emotionen heimgesucht, sowohl positiven als auch negativen. Sie hatte Schwierigkeiten, das Erhabene im Alltag zu finden. Es schien nur vorhanden zu sein, wenn sie sich von der Welt zurückzog.
Als sie erwachsen war, studierte sie Psychologie und heiratete einen bodenständigen Mann, der ihre Eigenschaften liebte. Für ihren Mann Art war Aron kreativ, intuitiv und eine tiefe Denkerin. Auch sie selbst schätzte diese Eigenschaften an sich, aber betrachtete sie als »die akzeptable Oberfläche eines schrecklichen verborgenen Makels, der mir mein ganzes Leben lang bewusst gewesen war«. Für sie war es ein Wunder, dass ihr Mann sie trotz dieses Makels liebte. 6
Als eine ihrer Kolleginnen sie einmal ganz nebenbei als »hochsensibel« bezeichnete, ging ihr ein Licht auf. Es war, als würde dieses Wort ihr geheimnisvolles Scheitern beschreiben, nur dass die Kollegin das Wort gar nicht als Makel gemeint hatte. Es war eine neutrale Beschreibung gewesen.
Aron dachte über diese neue Einsicht nach und begann dann, über dieses Persönlichkeitsmerkmal, das »hohe Sensibilität« hieß, zu forschen. Als sie so gut wie nichts fand, ging sie die riesige Literatur über die Introversion durch, die damit eng verbunden zu sein schien: Kagans Arbeit über hoch reaktive Kinder und die lange Liste mit Experimenten über die Tendenz von Introvertierten, sensibler auf soziale und sensorische Reize zu reagieren. Diese Untersuchungen ließen sie einen flüchtigen Blick auf das erhaschen, was sie suchte. Dennoch hatte Aron den Eindruck, dass in dem Porträt von introvertierten Menschen, das sich herausschälte, eine Lücke klaffte.
»Das Problem von Wissenschaftlern ist, dass sie versuchen, Verhalten zu beobachten, und dies sind Dinge, die man nicht beobachten kann«, erläuterte sie. Wissenschaftler können leicht das Verhalten von Extravertierten studieren, weil diese oft lachen, reden und gestikulieren. Aber »wenn ein Mensch in einer Zimmerecke steht, kann man ihm ungefähr
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