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Titel: B00B5B7E02 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cain
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besucht, berichtet mir über seine Erfahrungen als amerikanischer Schüler mit asiatischen Wurzeln. Mike ist sportlich und trägt nach typisch amerikanischer Art eine Khakihose, Windjacke und Baseball-Mütze, aber sein liebenswürdiges, ernstes Gesicht und sein flaumiger Schnurrbart verleihen ihm die Aura eines angehenden Philosophen. Er spricht so leise, dass ich mich nach vorn beugen muss, um ihn zu verstehen.
    »In der Schule«, erklärt Mike, »bin ich mehr daran interessiert, aufzupassen und ein guter Schüler zu sein, als den Klassenclown zu spielen oder mich mit meinen Mitschülern abzugeben. Wenn Wichtigtuerei, Stören oder Herumalbern im Unterricht sich negativ auf meinen Bildungsstand auswirken, entscheide ich mich lieber für die Bildung.«
    Auch wenn Mike diese Ansicht sachlich vorträgt, scheint er zu wissen, wie ungewöhnlich sie für amerikanische Verhältnisse ist. Seine Einstellung habe er von seinen Eltern übernommen, sagt er. »Wenn ich vor der Wahl stehe, etwas zu meinem Vergnügen zu tun, beispielsweise mit meinen Freunden auszugehen, oder zu Hause zu bleiben und zu lernen, denke ich an meine Eltern. Das gibt mir die Kraft weiterzulernen. Mein Vater sagt, sein Job sei es, Computer zu programmieren, und meiner zu lernen.«
    Seine Mutter war ihm durch ihr Verhalten ein Vorbild. Die ehemalige Mathematiklehrerin, die sich nach der Einwanderung der Familie in Amerika als Dienstmädchen verdingte, übte beim Abwaschen englische Vokabeln. Sie ist nach Mikes Worten sehr still und doch sehr resolut. »Es ist typisch chinesisch, sich auf diese Weise selbst um die eigene Bildung zu kümmern. Meine Mutter hat eine Art von Stärke, die nicht jeder sehen kann.«
    Offensichtlich ist Mike nicht nur der Stolz seiner Eltern, sondern auch der seiner Lehrer. Sein E-Mail-Name lautet »Einser-Schüler«. Mike hat gerade einen der begehrten Studienplätze an der Stanford University bekommen. Er ist die Art von nachdenklichem, fleißigem Schüler, auf den jede Kommune stolz sein könnte. Doch nur ein halbes Jahr zuvor war im Wall Street Journal ein Artikel mit dem Titel »The New White Flight« (Die neue Flucht der Weißen) erschienen, in dem es hieß, weiße Familien würden wegen Schülern wie Mike scharenweise Cupertino verlassen. 1 Sie würden vor den unerreichbaren Zensuren und dem unersättlichen Lerneifer vieler asiatisch-amerikanischer Schüler fliehen. Weiße Eltern befürchteten, dass ihre Kinder beim Lernen nicht Schritt halten könnten. Ein weißer Schüler aus einer Highschool am Ort wurde mit folgenden Worten zitiert: »Als Asiat muss man nur bestätigen, dass man klug ist. Als Weißer muss man es beweisen.«
    Doch der Artikel ging nicht darauf ein, was hinter diesem herausragenden Lerneifer steckte. Ich war neugierig, ob sich in den schulischen Verhältnissen der Stadt eine Kultur spiegelte, die gegen die schlimmsten Exzesse des Extravertiertenideals gefeit war – und wenn ja, wie sie aussehen würde. Ich beschloss, es vor Ort herauszufinden.
     
    Auf den ersten Blick wirkt Cupertino wie die Verkörperung des amerikanischen Traums. Viele asiatische Einwanderer der ersten und zweiten Generation leben und arbeiten in den Hightech-Unternehmen vor Ort. Hier liegt der Hauptsitz von Apple am Infinite Loop Nr. 1, und nicht weit davon hat Google seine Mountain-View-Niederlassung. Sorgfältig gepflegte Autos gleiten über die Boulevards; die wenigen Fußgänger sind adrett in leuchtenden Farben und fröhlichem Weiß gekleidet. Selbst einfache einstöckige Häuser hier sind teuer, aber die Käufer glauben, dass sie das Geld wert sind, wenn sie ihre Kinder auf die berühmten öffentlichen Schulen der Stadt schicken können mit ihren vielen Absolventen, die den Sprung auf die Eliteuniversitäten an der Ostküste schaffen. Von den 615 Schülern des Abschlussjahrgangs 2010 der Monta Vista Highschool in Cupertino, von denen laut der (auch auf Chinesisch übersetzten) Website der Schule 77 Prozent asiatischer Herkunft sind, haben es 53 in die vorletzte Auswahlrunde für das nationale Begabtenstipendium geschafft. Und die durchschnittliche kombinierte Punktzahl jener Schüler, die 2009 den Zulassungstest für amerikanische Hochschulen machten, lag mit 1916 von 2400 Punkten 27 Prozent über dem Landesdurchschnitt.
    Schüler, die an der Monta Vista Highschool hohes Ansehen genießen, sind nicht unbedingt sportlich oder lebhaft, sagen mir die Jugendlichen, die ich hier kennenlerne. Vielmehr sind sie fleißig und manchmal

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