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während die anderen sie als »Unsinn schwafeln« abqualifizieren? Woher kommen so radikal unterschiedliche Ansichten?
Das Journal of Research in Personality hat eine Antwort auf diese Fragen in Form einer Karte publiziert, die von dem experimentellen Psychologen Robert McRae gezeichnet wurde. 4 Sie sieht wie eine Landkarte in einem Erdkundebuch aus, aber laut McRae stellt sie »nicht die Regenfälle oder die Bevölkerungsdichte, sondern die unterschiedliche Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen« dar. Die Schattierungen von Dunkelgrau ( für Extraversion) bis hin zu Hellgrau ( für Introversion) enthüllen ein Bild, das »ziemlich eindeutig ist: Asien … ist introvertiert, Europa extravertiert.« Wären auf der Landkarte auch die USA verzeichnet, wäre das Gebiet dunkelgrau eingefärbt; Amerikaner gehören zu den extravertiertesten Menschen auf der Welt.
McRaes Karte könnte man für einen groß angelegten Versuch zum Untermauern kultureller Stereotype halten. Ganze Kontinente nach der Mentalität einzuordnen ist ein Akt grober Verallgemeinerung: Man kann laute Menschen ebenso leicht in China wie in Atlanta, Georgia, finden. Ebenso wenig trägt die Landkarte den Feinheiten kultureller Unterschiede innerhalb eines Landes oder einer Region Rechnung. Menschen in Peking haben andere Verhaltensmuster als jene in Schanghai, und beide unterscheiden sich wiederum von Bürgern in Seoul oder Tokio. Ebenso begrenzend und herabsetzend ist es, Asiaten als »Modellminorität« , wie auf der genannten Webseite, zu bezeichnen – auch wenn der Begriff als Kompliment gedacht ist –, weil es wie jede Charakterisierung Individuen auf eine Reihe angeblicher Gruppeneigenschaften reduziert. Vielleicht ist es auch problematisch, Cupertino als Nährboden für schulische Spitzenleistungen zu charakterisieren, wie schmeichelhaft diese Beschreibung auch in den Ohren einiger Menschen klingen mag.
Aber auch wenn ich eine rigide Einteilung von Nationen oder Ethnien in Charaktertypen nicht unterstützen möchte, wäre es schade, das Thema der kulturellen Unterschiede und der Introversion völlig außer Acht zu lassen. Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten der asiatischen Kultur und Mentalität, von denen die übrige Welt lernen könnte und sollte. Wir müssen nur auf die Worte der Einwohner von Cupertino hören, um das zu sehen. Und der Einfall, die Welt nach Graden der Introversion und Extraversion zu kartieren, ist nicht so seltsam, wie er zunächst klingen könnte. Wissenschaftler erforschen seit Jahrzehnten die kulturellen Mentalitätsunterschiede besonders zwischen Ost und West, und dabei berücksichtigen sie vor allem die Intro- und Extraversion, das eine Paar von Merkmalen, das Psychologen, die sich sonst auf so gut wie nichts einigen können, wenn es um Kategorien der menschlichen Persönlichkeit geht, für deutlich sicht- und messbar auf der ganzen Welt halten.
Ein Großteil dieser Forschung kommt zu denselben Ergebnissen wie McRaes Landkarte. Eine Studie, bei der Kinder zwischen acht und zehn in Schanghai und Südontario in Kanada verglichen wurden, erbrachte beispielsweise, dass scheue und sensible Kinder in Kanada von Gleichaltrigen gemieden werden, in China hingegen beliebte Spielkameraden sind. 5 Dort werden sie auch eher als andere Kinder für Führungsrollen herangezogen. Chinesische Kinder, die sensibel und zurückhaltend sind, gelten als »dongshi« (verständnisvoll), ein beliebtes Lob.
Chinesische Highschool-Schüler geben bei wissenschaftlichen Untersuchungen an, dass sie Freunde vorziehen, die »bescheiden« und »altruistisch«, »ehrlich« und »fleißig« sind, während amerikanische Higschool-Schüler sich die »fröhlichen«, »begeisterungsfähigen« und »kontaktfreudigen« aussuchen. »Der Kontrast ist auffällig«, schreibt der interkulturelle Psychologe Michael Harris Bond, der sich auf China spezialisiert hat. »Die Amerikaner betonen Kontaktfreudigkeit und schätzen diejenigen Eigenschaften, die einen leichten, fröhlichen Umgang garantieren. Die Chinesen betonen tiefere Eigenschaften und legen den Schwerpunkt auf Tugend und Leistung.«
Bei einer anderen Untersuchung wurden Amerikaner asiatischer und europäischer Herkunft gebeten, laut zu denken, während sie Aufgaben, die logisches Denken erforderten, lösten. 6 Dabei stellte sich heraus, dass die Asiaten viel besser abschnitten, wenn man ihnen erlaubte, still zu denken, im Gegensatz zu den Europäern, die gute Leistungen erzielten, wenn sie laut
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