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zurückzukehren, wo er sein weiterführendes Studium begonnen hatte, und beendete sein Promotionsstudium in der »weniger schwammigen« mathematisch orientierten Wissenschaft, indem er seine Doktorarbeit entsprechend präzisierte. Heute hält Nero einmal im Jahr einen halbsemestrigen Kurs unter dem Titel »Geschichte des probabilistischen Denkens« an der mathematischen Fakultät der New York University. Dieses äußerst originelle Seminar wird von begabten Doktoranden gerne besucht. Nero hat genug gespart, um seinen Lebensstil in Zukunft finanzieren zu können, und hat über Alternativpläne nachgedacht. So könnte er sich etwa zur Ruhe setzen, um populärwissenschaftliche Essays in der wissenschaftlich-literarischen Tradition zu verfassen, die sich mit Themen wie Wahrscheinlichkeit und Indeterminismus beschäftigen – aber nur, wenn irgendein zukünftiges Ereignis dazu führt, dass die Finanzmärkte geschlossen werden. Nero glaubt, dass risikobewusste, harte Arbeit und Disziplin mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit zu einem komfortablen Leben führen können. Mit allem anderen begibt man sich in die Hände des Zufalls: Man kann (unbewusst) enorme Risiken eingehen, oder das Glück ist einem außerordentlich gewogen. Moderater Erfolg lässt sich durch Fähigkeiten und Fleiß erklären. Stürmischer Erfolg ist auf Varianzen zurückzuführen.
jeder hat sein Geheimnis
Neros probabilistische Introspektion ist möglicherweise von einem dramatischen Ereignis in seinem Leben verstärkt worden, das er allerdings für sich behält. Ein genauer Beobachter könnte bei Nero ein gewisses Maß verdächtigen Überschwangs feststellen – einen unnatürlichen Elan. Denn sein Leben ist nicht so kristallklar, wie es den Anschein hat. Nero verbirgt ein Geheimnis, das wir zum richtigen Zeitpunkt lüften werden.
John, der High-Yield-Händler
Während der neunziger Jahre wohnte lange Zeit gegenüber von Neros Haus auf der anderen Straßenseite ein gewisser John – in einer erheblich größeren Behausung. John handelte mit Hochzinsanleihen, so genannten »High Yieldern«, verfolgte jedoch einen anderen Tradingansatz als Nero. Kurzes Fachsimpeln mit ihm hätte offenbart, dass er den intellektuellen Tiefgang und geistigen Scharfblick eines Aerobiclehrers besaß (wenn auch nicht dessen Körperbau). Selbst ein Blinder hätte erkennen können, dass John finanziell erheblich besser gestellt war als Nero (oder zumindest glaubte, dies zeigen zu müssen). In seiner Einfahrt parkten zwei deutsche Autos, Spitzenmodelle natürlich (für ihn und für sie), und daneben noch zwei Kabrios (eines davon ein Sammlerstück – ein alter Ferrari). Nero dagegen fährt seit fast zehn Jahren – bis zum heutigen Tag – das gleiche VW-Kabrio.
Die Ehefrauen von John und Nero waren Bekannte, so wie man sich eben vom Fitnessclub her kennt, aber Neros Frau fühlte sich in der Gesellschaft von Johns Gemahlin stets unwohl. Sie hatte den Eindruck, dass ihre Nachbarin sie nicht nur beeindrucken wollte, sondern auch behandelte, als stünde sie gesellschaftlich eine Stufe unter ihr. Während Nero schon an den Anblick von Händlern gewöhnt war, die zu Reichtum gekommen waren (und zu sehr versuchten, kultiviert zu wirken, indem sie sich zu Weinsammlern oder Opernliebhabern hochstilisierten), hatte seine Frau kaum jemals verklemmte Neureiche getroffen – jene Sorte von Menschen, die den bitteren Geschmack der Armut irgendwann in ihrem Leben kennen gelernt hatten und sich dafür rächen wollen, indem sie ihren Besitz zur Schau stellen. Wie Nero gerne zu sagen pflegt, ist die einzige Schattenseite am Börsenhändlerdasein, dass völlig unvorbereitete Menschen mit Geld überschüttet werden – Menschen, denen man plötzlich beibringt, Vivaldis Vier Jahreszeiten wäre »anspruchsvolle Musik«. Seine Frau kam es jedoch hart an, fast täglich mit einer Nachbarin zu tun zu haben, die liebend gerne mit dem neuen Innenarchitekten prahlte, den sie gerade angeheuert hatte. John und seiner Gattin machte es nichts aus, dass bei der Einrichtung ihrer »Bibliothek« ledergebundene Bücher mitgeliefert wurden (ihre Lektüre im Fitnessclub beschränkte sich auf Klatschzeitschriften, aber auf ihren Bücherregalen stand eine Auswahl unberührter Bücher toter amerikanischer Autoren). Johns Frau erzählte auch immer wieder von exotischen Orten mit unaussprechlichen Namen, die sie im Urlaub bereisen wollte, ohne auch nur das Geringste darüber zu wissen – sie hätte nur
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