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philosophische Fakultät. Diesen Fachwechsel bezeichnete er als »einen Augenblick vorübergehender Zurechnungsfähigkeit«, was die Bestürzung seines Doktorvaters verstärkte, der ihn vor den Philosophen warnte und prophezeite, dass er wieder in den Schoß der Statistik zurückkehren werde. Nero schloss seine Doktorarbeit in Philosophie ab, verfasste sie aber nicht im von Derrida geprägten kontinentalen Stil unverständlichen Schwadronierens ( unverständlich für jeden, der kein Insider ist, also Menschen wie mich). Ganz im Gegenteil: Seine Doktorarbeit befasste sich mit der Methodik der statistischen Inferenz in ihrer Anwendung auf die Soziologie. Eigentlich war seine Doktorarbeit nicht von einer Abhandlung in mathematischer Statistik zu unterscheiden – sie war nur etwas tiefsinniger (und doppelt so lang).
Es wird oft gesagt, dass man sich mit der Philosophie keine goldene Nase verdienen kann – aber das war nicht der Grund, warum Nero ihr den Rücken kehrte. Er verabschiedete sich von dieser Disziplin, weil sie ihm nicht unterhaltsam genug war. Zunächst begann sie nutzlos zu erscheinen; er erinnerte sich an die Warnungen seines Statistik-Doktorvaters. Dann fing sie plötzlich an, in Arbeit auszuarten. Als er es schließlich leid war, Traktate über irgendwelche undurchsichtigen Einzelheiten seiner früheren Veröffentlichungen zu verfassen, gab er seine Universitätslaufbahn auf. Akademische Debatten langweilten ihn schier zu Tode, vor allem wenn es um haarspalterische (für Laien nicht erkennbare) Feinheiten ging. Nero brauchte ein bisschen Action. Das Problem war dabei nur, dass er seine akademische Laufbahn ursprünglich eingeschlagen hatte, um dem Stumpfsinn und der maßvollen Unterwerfung des Angestelltendaseins zu entrinnen.
Nachdem er mit angesehen hatte, wie der Börsenhändler wie von einem Tiger gejagt die Treppe hinaufstürmte, suchte sich Nero einen Platz als Trainee an der Chicago Mercantile Exchange, wo die Händler unter lautem Geschrei und wildem Gestikulieren Warentermingeschäfte abschließen. Dort arbeitete er für einen renommierten (aber exzentrischen) Lokalmatador, der ihn in den typischen Chicagoer Stil einführte. Im Gegenzug löste Nero mathematische Gleichungen für seinen Mentor. Die energiegeladene Atmosphäre erwies sich für Nero als stimulierend. Schon bald arbeitete er sich zum freiberuflichen Börsenhändler hoch. Als er es dann satt hatte, sich in der Menge die Beine in den Bauch zu stehen und seine Stimmbänder zu strapazieren, beschloss er, sich »auf der oberen Etage« eine Stelle zu sichern, also an einem Trading Desk. Er zog in den Raum New York um und nahm eine Stelle bei einer Investmentbank an.
Nero spezialisierte sich auf quantitative Finanzprodukte, bei denen er einen frühen Augenblick des Ruhms erlebte, der ihn zu einem bekannten und gefragten Händler machte. Viele New Yorker und Londoner Investmentbanken versuchten, ihn mit großzügigen, garantierten Bonuszahlungen zu locken. Nero pendelte einige Jahre lang zwischen den beiden Städten hin und her, nahm an wichtigen »Meetings« teil und trug teure Anzüge. Aber bald begann er sich wieder in die Anonymität zurückzuziehen, denn das Leben eines Wall-Street-Stars entsprach nicht seinem Wesen. In der Gruppe der »Hot Trader« kann man sich nur mit gewissen organisatorischen Ambitionen und Machthunger halten, und Nero schätzte sich glücklich, dass ihm diese Züge fehlten. Er wollte einfach nur seinen Spaß haben – und seiner Ansicht nach waren Administration und Führungsverantwortung kein Vergnügen.
In Konferenzen langweilt er sich gerne, und er kann nicht gut mit Geschäftsleuten umgehen, insbesondere nicht mit der Spezies, auf deren Stirn »Mittelmaß« geschrieben steht. Nero reagiert allergisch auf das Vokabular geschäftlicher Besprechungen, und zwar nicht nur aus ästhetischen Gründen. Formulierungen wie »Taktiken«, »Jahresüberschuss«, »Wege zum Ziel«, »wir liefern Lösungen für unsere Kunden«, »unsere Mission« und anderen abgedroschenen Phrasen, die in Meetings an der Tagesordnung sind, fehlen genau die Präzision und Färbung, für die er eine Vorliebe hat. Er weiß nicht, ob die Teilnehmer einfach mit leeren Worthülsen die Stille füllen möchten oder ob solche Treffen tatsächlich einem sinnvollen Zweck dienen. Auf jeden Fall will er nicht an solchen Sitzungen teilnehmen. In Neros weitläufigem Bekanntenkreis gibt es auch tatsächlich fast keinen einzigen
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