B00DJ0I366 EBOK
Unbekannte und mich.«
Nikolaj prüft konzentriert das Foto. »Mag sein. Das liegt an der Haarfarbe. Und der Figur.«
»Ich bin ihr wie aus dem Gesicht geschnitten!«
»Du übertreibst. Außerdem ist das Foto viel zu unscharf, um richtig was zu erkennen.«
Sam ist verunsichert. Sie nimmt ihm das Bild aus der Hand. »Luna hat die Ähnlichkeit auch entdeckt.«
»Na, wenn Oma recht hat und es eine entfernte Verwandte ist, wäre es ja nicht weiter erstaunlich.«
Unerwartet lässt der Regen nach. Es ist ganz still in der Wohnung. Sam genießt es, mit Nikolaj zu schweigen. Einvernehmlich hocken sie auf dem Teppich und graben sich durch den Fotokarton. Nippen an den Teetassen. Ganz von selbst ergeben sich zwei Stapel Bilder.
»Diese hier«, sagt Nikolaj schließlich. »Die würde ich in die engere Wahl nehmen. Die anderen bleiben besser privat.«
Sam holt eine Schachtel aus dem Schlafzimmer. Dort hinein legt sie die Fotos, die sie für die Ausstellung ausgewählt haben. »Das ist wenigstens erledigt. Ich träume von einer Videoinstallation. Was hältst du davon? Hilfst du mir?«
»Klar. Die vom Kongresshaus wollen das komplette Konzept bald haben. Sie müssen die technischen Voraussetzungen genau kennen. Einer muss schließlich alles aufhängen, installieren, für die Beleuchtung sorgen und so weiter.«
Sam nimmt die Liste mit den zu erledigenden Aufgaben aus ihrem Schreibtisch. Sie wird immer länger, und kaum ein Posten ist bisher ausgestrichen. Es wird Zeit, dass sie entschiedener an die Sache herangeht. Eine Woge von Lustlosigkeit drückt sie für Augenblicke nieder. Sie hat so viel zu tun. Die neue Kollektion, die beständige Angst, in der Firma weggebissen zu werden.
»Mutter weiß nicht, was sie uns da aufhalst«, stöhnt Sam.
»Was wir uns selber aufgehalst haben.«
»Weil wir beide keine Neinsager sind.«
Sie sehen einander an und lächeln. Mit Nikolaj ist alles easy-going.
»Und wegen morgen …« Nikolaj sieht Sam drängend an.
»Süßer, ich bin auf eurer Seite. Nimm dir einfach vor: Wenn Victoria sich im Ton vergreift, schnappst du dir deine Trixi und verlässt das Haus.«
Sie gehen zur Tür.
»Dein Wort in Manitus Ohr«, sagt Nikolaj.
7
Am Samstagmorgen bringt Sam das Foto mit der Unbekannten in Jerry’s Photoshop in der Badergasse. Der Kameruner ist ein Freund, einer, der weiß, dass Sam es mit ihren Fotoarbeiten jedes Mal schrecklich eilig hat.
»Heute geht es nicht um Mode?«, fragt er erstaunt.
»Ausnahmsweise nicht. Jerry, kriegst du das Foto schärfer und größer?«
»Das ist ein Widerspruch in sich.«
»Bitte!«
»Ich tue, was ich kann.«
»Ich brauche die Aufnahme allerdings gleich wieder.« Sie wedelt mit dem Foto.
Jerry nimmt es ihr ab. »Samanthas Aufträge sind nie besonders simpel zu bearbeiten. Eine echte Herausforderung!«
Er verschwindet in seinem Hinterzimmer. Es dauert, bis er zurückkommt.
»So. Eingescannt und abgelichtet. Schauen wir mal.«
»Danke, Jerry. Es ist wirklich wichtig.« Sie wartet einen Moment, während Jerry das Foto in einen wattierten Umschlag packt.
»Wenn es so wichtig ist, solltest du das wertvolle Familiensouvenir nicht in der Jeanstasche mit dir herumschleppen.«
»Familiensouvenir?«
»Die eine Frau ist deine Mutter. Ich habe ein geübtes Auge für Gesichter.« Jerry grinst. »Victoria May vor geschätzten 30 Jahren.«
Sam hält den Atem an. »Und die andere …?«
Jerry nimmt die Aufnahme aus dem Umschlag. Sieht Sam wieder an. Schaut auf das Foto. Sam wird heiß und kalt. Ihre Wangen glühen.
»Deine Tante?«, fragte Jerry unschuldig.
»Ich … weiß es nicht.«
»Naja, du siehst ihr irgendwie ähnlich. Aber ich kann mich täuschen.«
Ein Mann betritt das Geschäft, stellt sich neben Sam an den Verkaufstresen und klopft mit seinem Autoschlüssel rhythmisch auf die Glasplatte.
Jerry reagiert nicht. Ruhig schiebt er das Foto zurück in den Umschlag, klebt seinen ›Jerry’s Photoshop‹-Aufkleber drauf und fragt geschäftsmäßig: »Möchten Sie eine Plastiktüte?«
Sam liebt Jerry für seine kleinen Subversivitäten.
*
Zurück in ihrer Wohnung wirft sie einen gestressten Blick in den Kleiderschrank. Noch einen Tag in Jeans und Sweater hält sie nicht aus. Das Wetter ist durchwachsen. Ein Grillfest wird es nicht geben. Sie wählt eine weite schwarze Hose und eine Bluse, die Luna ihr geschenkt hat. Auch ein Prototyp für eine Kollektion, aus der nichts wurde. Schade, denkt Sam, während sie über den seidigen, schwarzen
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