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angeblich geschafft haben, Eleni auf den wichtigen nationalen Kunstmärkten zu positionieren.
Sam schwirrt der Kopf. Ihr Handy klingelt, wie immer im denkbar dümmsten Moment. Sie kramt es aus ihrer Tasche. Es ist ihr Vater. Sie drückt ihn weg. ›Anruf ablehnen‹ ist momentan ihre liebste Option. Wütend wirft sie das Telefon in die Tasche. Ein heller, metallischer Ton ist zu hören. Sam greift in die Tasche. Sie hält das Aufnahmegerät in den Händen, das Hendrik Rosen auf den Tisch gelegt hat.
Sie betrachtet es näher. Es ist eines von diesen digitalen Geräten, das sich selbst abschaltet, wenn es keinen stimmlichen Input bekommt. Sam spielt daran herum. Schließlich ruft sie die bisherigen Aufnahmen ab.
Sie hört eine Stimme, die ihr bekannt vorkommt. So bekannt, dass es ihr eiskalt den Rücken hinunterläuft. Der Mann mit dem Stetson und der auffälligen Krawattennadel. Dem sorgfältigen Englisch mit dem starken italienischen Akzent.
Loredan.
Hendrik Rosen macht ein Interview mit Loredan. Der Italiener betreibt eine Kunstagentur, so, wie es sich anhört, eine der einflussreichsten in ganz Italien. Rosen stellt ein paar Fragen über die wichtigsten Künstler, die er unter Vertrag hat. Unter ihnen ist Eleni Tsiadis. Loredan nennt sie wie nebenbei als Vorletzte auf seiner Liste an besten Empfehlungen. Es folgen ein paar Worte zu Elenis Ausstellung in Venedig. Loredan erwähnt die Finissage. Rosen schwenkt zu einer Frage über die staatliche Kunstförderung in Italien. Der Agent gibt eine kurze, launige Antwort. An dieser Stelle endet das Interview. Sam will gerade abschalten, als noch einmal Loredans Stimme zu hören ist.
»Das also in die nächste Ausgabe von ›Artes‹. Sie sind mir was schuldig.«
Darauf antwortet Rosen:
»Sicher, Signor Loredan. Das ist kein Problem.«
»Wir warten bis Mitte Juni, bevor wir das Täubchen abschießen.«
Sam starrt auf das Gerät, das nun den Beginn ihres eigenen Gespräches mit Rosen abspielt.
Sie sind mir was schuldig.
Ist dieser Hendrik Rosen nicht viel zu jung, um Redakteur bei einem Magazin wie ›Artes‹ zu sein? Wie viele Journalisten würden sich die Finger nach so einer Position lecken? Sams Hände zittern, als sie das Diktafon in ihre Tasche gleiten lässt. Welches Täubchen will Loredan abschießen? Und warum?
Sam sieht auf die Uhr. Es ist spät.
Sie ruft Luna an.
*
Luna bringt zwei Flaschen Rotwein mit. Sie sitzen auf dem Teppich und reden. Zuerst erzählt Sam. Sie spielt Luna die Aufnahme vor. Zeigt die Ausdrucke über Eleni Tsiadis’ Leben, die sie aus dem Internet hat. Trägt ihre Zweifel, ihre Vermutungen vor.
Das Licht der Deckenlampe bringt den Wein in den Gläsern zum Funkeln. Ab und zu trinkt Luna einen Schluck. Schließlich, als Sam geendet hat und ihre Freundin hilfesuchend ansieht, sagt Luna:
»Also, im Ernst: du hast da eine ganz große Sache aufgedeckt.«
»Grace lebt, Luna! Das ist unwahrscheinlich, ich weiß. Aber es kann nicht anders sein. Ich habe Eleni sprechen gehört, Luna. Sie spricht deutsch wie du und ich. Sie ist keine Griechin. Nicht der Hauch eines Akzents! Sie verwendet unsere Ausdrücke, Wörter, wie man sie nicht im Ausland lernen kann!«
»Und deine Familie hat keinen Schimmer«, stellt Luna fest.
»Nein. Da bin ich mir sicher.«
»Wie konnte das gehen? Denk an die Protokolle. Jemand stürzt aus solcher Höhe …«
»Das hat Victoria so angegeben.«
»Du meinst, es hat sich ganz anders zugetragen?« Luna sieht Sam ehrlich entsetzt an. »Dann wüsste deine Mutter …«
Sam hebt beide Hände. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Eleni Tsiadis geht am Stock. Sie hatte angeblich Kinderlähmung, als sie klein war. So habe ich es in einem der wenigen Beiträge aus einer britischen Zeitung gefischt.« Sie weist auf den Papierstapel, der vor Luna auf dem Teppich liegt. »Aber es könnte doch sein, dass sie den Sturz schwer verletzt überlebt hat.«
»Warum hat sie dann niemand gefunden? Entschuldige, Sam, das klingt zu konspirativ.«
»Vielleicht hat jemand sie gefunden. Sie aufgelesen, zu sich nach Hause mitgenommen und gesundgepflegt.«
»Ich bitte dich!« Luna schenkt Sam Wein nach. »Man nimmt schließlich keine Schwerverletzte mal eben so mit. Wie denn? Wenn sie sämtliche Knochen gebrochen hatte …«
»Ich weiß es ja auch nicht. Ich versuche, mir zusammenzureimen, was gewesen sein könnte. Denn eines sage ich dir: Die Bilder von Grace May vor 30 Jahren und die von Eleni Tsiadis heute, die
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