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greift nach dem Telefon.
»May?«
»Hier ist Roman Hallstein, guten Abend.«
»Ach.« Blanca lächelt. »Roman. Hallo.«
»Ich …«
»Sam wohnt nicht mehr bei mir.«
»Ich erreiche sie nicht. Weder zu Hause noch auf ihrem Handy. Sie geht mir aus dem Weg. Ich dachte …«
Blanca seufzt. Erwartet er von ihr, dass sie eine Beziehung kittet, die gegebenenfalls nur ein kleiner Scherz des Schicksals war?
»Am 4.6. ist Vernissage. Da werden Sie Sam bestimmt zu Gesicht kriegen. Die Ausstellung wird sie sich nicht nehmen lassen.«
Roman sagt eine Weile nichts. Blanca denkt schon, er hat das Interesse verloren und aufgelegt. »Hallo?«, ruft sie halblaut in den Hörer.
»Ich bin noch dran, Frau May. Meinen Sie, ich könnte bei Ihnen vorbeikommen?«
»Jetzt?« Fast hofft Blanca, dass er ›ja‹ sagt. Die Einsamkeit zerrüttet sie. Liebend gern würde sie aufstehen, sich anziehen und eine Flasche Wein entkorken, um mit dem Ex-Freund ihrer Enkelin auf irgendwas anzustoßen.
»Nun, ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Es macht mir nichts aus. Kommen Sie.«
*
Eine halbe Stunde später ist Roman bei Blanca. Er steht schlaksig in der Tür, das braune Haar zerrauft. Es ist ihm sichtlich unangenehm, so spät aufzuschlagen. Anstelle einer Begrüßung druckst er herum.
»Herein mit Ihnen!«, sagt Blanca.
Sie setzen sich in die Küche, wo Blanca ihnen beiden ein Glas Rotwein einschenkt. Lucienne streift maunzend um ihre Beine.
»Ich habe keinen Kontakt zu Sam«, erklärt Blanca. »Sie selbst will es so. Sie hat sich von der Familie zurückgezogen. Wahrscheinlich wurde es schlicht Zeit, dass sie sich abnabelt. Zu schade, dass sie sich auch von Ihnen entfernt hat.«
Roman zuckt die Achseln. »Ich glaube nicht, dass sie sich wirklich entfernt hat. Sie ignoriert nur. Die Tatsachen, meine ich.«
»Welche Tatsachen?« Blanca wird argwöhnisch.
»Nehmen Sie es mir nicht übel. Bei allem, was recht ist, sie muss inzwischen wissen, dass Grace ihre Mutter ist. Und nicht Victoria. Sie will es bloß nicht wahrhaben. Oder?«
Blanca verspürt den dringenden Wunsch, dem jungen Mann ihr gegenüber eine Ohrfeige zu verpassen. Sie hat weder ihre Töchter noch ihre Enkel je geschlagen. Jetzt juckt es sie in den Fingern, diesem Schnösel, der vom Leben so gut wie nichts versteht, weniger als nichts, eine Lektion zu erteilen.
Langsam lässt sie den Wein im Glas kreisen.
»Woher wissen Sie es?«
»Die unglaubliche Ähnlichkeit. Die Tatsache, dass Grace totgeschwiegen wurde. In der Familie, meine ich. Warum hätten Sie das tun sollen? Um Victoria eine Karriere aufzubauen?«
»Wir dachten, es wäre das Beste für Sam, wenn sie es nicht wüsste.«
Roman beugt sich vor, setzt an, etwas zu sagen, aber Blanca hebt die Hand.
»Warten Sie! Ja, wahrscheinlich wollte Victoria ihre Karriere auf Grace’ Bildern aufbauen. Sams Wohlergehen hat sie nur vorgeschoben. Andererseits: Sie wollte auch Sam haben. Sie wollte, dass Sam ihre Tochter ist. Victoria heiratete und sehnte sich nach einem Kind, aber es kam keines. Stattdessen wurde Grace schwanger. Wieder bekam Grace etwas, was ihrer vernachlässigten Schwester vorenthalten war.« Blanca spricht immer schneller. Alles sprudelt ihr über die Lippen; was sie in Jahren zurückgehalten hat, fließt diesem Fremden entgegen, der, wie es der Teufel will, Journalist ist, ein Schreiberling, einer, der mit den Dramen der Menschen sein Geld macht. »Sam war ein hübsches Baby. Victoria war ganz vernarrt in sie. Sam hatte ein fröhliches Temperament und war leicht zu haben. Ein richtiger Sonnenschein. Grace jedoch wollte die Kleine nicht. Sie wollte Freiheit, sie wollte nicht angebunden sein, sie strebte nach einer Karriere, sie brauchte Luft zum Atmen …«
Roman schenkt Blanca Wein nach.
»Als Grace tot war, gab es für Victoria nur eins: Sie wollte Sam adoptieren. Sam sollte ihr Kind sein. Robert, ihr Mann, war sofort einverstanden.« Hier bricht Blanca ab. Sie wirft Roman einen Blick zu. »Das haben Sie auch rausgefunden?«
Er nickt.
»Wie?«
»Man muss nur genau hinsehen.«
»Lieben Sie Sam?«
Er nickt und wird rot.
»Warum haben Sie Ihren Job verloren?«
»Zuerst Ärger mit dem Chefredakteur, nachher brutale Selbstzweifel. Ich konnte den Job nicht mehr machen. Boulevard ist ziemlich dreckig.«
»Und was werden Sie in Zukunft tun?«
»Ich denke drüber nach, mir online etwas aufzubauen.«
Blanca hält es für unmöglich, mit dem Internet Geld zu verdienen, wenn keiner mehr für das
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