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bezahlt, was er dort liest. Wahrscheinlich ist sie zu alt, um die Zusammenhänge zu durchschauen. Im Moment spielt es ohnehin keine Rolle.
Roman trinkt seinen Wein aus und schenkt sich selbst nach. Er sieht Blanca direkt an. Sie findet seine grünen Augen betörend. Unwirklich. Sie passen in ihrer Intensität gar nicht zu diesem schlaksigen Mann, dem die Jeans von den Hüften rutschen. Trägt er farbige Kontaktlinsen?
»Bitte, lassen Sie mich eine Sache sagen.« Roman räuspert sich, beugt sich zu Blanca. »Es könnte sein, dass Grace gar nicht tot ist.«
55
Sam liegt im Bett. Sie hat geduscht, versucht, diesen Hendrik Rosen abzuspülen, wegzuschwemmen, und mit ihm alle Gedanken, alle erneuten Zweifel.
Jemand wollte sie in Venedig haben. Nicht Rosen selbst. Wer sonst?
Sie vermutet, dass jemand Rosen eine gute Story unter die Nase gehalten hat, wie man einem Hund einen Knochen hinhält. Und wieder wegzieht. Warte du nur, damit du ihn kriegst, musst du Männchen machen.
Wie lange ist Rosen schon hinter ihr her? War das Gefühl, beobachtet zu werden, zuverlässig oder nur eine Laune ihrer überreizten Nerven? Ist die Ausstellung in Gefahr?
Sam wälzt sich von einer Seite auf die andere. Eleni Tsiadis. Grace May. Victoria May. All die Bilder, die sie in den letzten Wochen von allen Seiten betrachtet, analysiert und durchdacht hat, mischen sich vor ihrem inneren Auge zu einem einzigen Wirrwarr an Farben, Formen, Aussagen.
Plötzlich fragt sie sich, ob Kunst überhaupt eine Aussage macht oder nicht einfach nur aufreizend sein will. Herausfordert. Grace und ihre abstrakten Linien. Victoria, die darauf aufbaut, abmalt, neu malt, ohne je etwas Eigenes zu entwerfen. Und schließlich Eleni Tsiadis. Unikoloristisch. Düster. Extrem.
Sam fängt an zu schwitzen. Ihr Herz rast. Sie wirft die Bettdecke weg, knipst das Licht an. Während sie den Computer hochfährt, wühlt sie nach den Fotos, die sie von John Carrick hat.
Sie legt die Aufnahmen auf dem Teppich aus und ordnet Victorias Bilder darunter an. Im Netz sucht sie nach Bildern von Eleni. Sie druckt ein paar aus, legt sich bäuchlings auf den Boden und bringt alles in eine sinnvolle Anordnung. Es ist ein Stammbaum. Oben Grace’ Gemälde. Darunter, links, Victorias. Daneben, rechts, Elenis.
Sam laufen die Tränen übers Gesicht. Sie checkt die Seiten, die ›Artes‹ über Eleni Tsiadis geschrieben hat. Ihre Gedanken beschleunigen, überschlagen sich. In ihrem Kopf hämmert es wir verrückt.
Es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es wäre wider allen Verstand, an so etwas zu glauben. Sam greift nach den Übersetzungen, die Romans Vater angefertigt hat. Ein Sturz über 30 Meter, vorspringende Klippen, scharfkantige Felsen, eine gefährliche Brandung, extreme Strömungen. Niemand kann so etwas überleben.
Die Kunstwerke, die Sam in schlechten Ausdrucken auf ihrem Teppich liegen hat, sprechen eine andere Sprache.
Eleni Tsiadis ist Grace May. Sie spricht perfekt deutsch. Das Alter stimmt. Ihr Aussehen verbirgt Eleni unter einem Hut. Es gibt nur ein einziges autorisiertes Pressefoto. Niemand weiß etwas Genaues über ihre Lebensgeschichte. Sam entdeckt einen Artikel, in dem es heißt, Eleni Tsiadis habe im Laufe ihres Lebens unablässig neue, widersprüchliche Details über ihre Herkunft ausgestreut. Absichtliche Fehlinformationen, um sich interessanter zu machen? Der Bericht, den Sam in einem Magazin online liest, wurde von Hendrik Rosen geschrieben.
Es passt alles, denkt Sam. Die Panik droht sie zu überwältigen. Hat Blanca es geahnt? Weiß es Victoria? Ist sie, Sam, wieder einmal der Trottel, der alles als Letzter bemerkt? Und ihr Vater? Welche Rolle spielt ihr Vater?
Sam zupft an ihrer Unterlippe. Plötzlich wird die Kunstszene auf Eleni Tsiadis aufmerksam. Suchen sie eine Leiche in ihrem Keller? Irgendetwas, um sie in der Öffentlichkeit bloßstellen zu können? Warum? Gibt es für den Boulevard nichts Spannenderes? Richtig schrille Promis mit Drogenproblemen und bauchfreien Outfits, deren Marktwert in Skandalen berechnet wird, weil es sonst nichts gibt, an dem man diese Sternchen messen könnte?
»Fuck!«, sagt Sam in den stillen Raum hinein. Sie vertieft sich ins Internet, liest alles, was sie über die griechische Künstlerin finden kann. Ein britisches Magazin hat vor zwei Jahren Fotos des Fischerdorfes veröffentlicht, in dem Eleni Tsiadis aufgewachsen sein soll. Ihren Erfolg schreibt die Journaille im Großen und Ganzen ihren Agenten zu, welche es
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