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und schon gar nicht, um in die Firma einzusteigen.
»Hallo, meine Lieben!« Sam küsst Nikolaj auf die Wange. Er zwinkert ihr unbeholfen zu. Trixi sieht schick aus, ihre braunen Locken sind kürzer, als Sam in Erinnerung hat. Zur neuen Frisur trägt sie einen roten Hosenanzug, kombiniert mit einem weißen Halstuch.
»Hi, Sam!«, sagt sie.
Sie ist aufgeregt, denkt Sam. Meine Güte, warum ist Familie so kompliziert.
Victoria kommt herein. Sie braucht stets einen Extraauftritt.
»Hallo, Mutter!«
Victoria haucht Sam einen Kuss auf die Wange, bevor sie prüfend ihr Haar mustert, zu einem Kommentar ansetzt, aber von ihrem Mann unterbrochen wird.
»Wie wäre es mit einem Aperitif?«
»Ja, Sam, möchtest du auch einen Campari Orange?«, trällert Victoria.
»Ja, danke.«
Ihr Vater reicht ihr ein Glas. Es ist eiskalt.
»Habt ihr alle zu trinken?«, fragt Victoria, wobei sie streng in die Runde blickt. »Dann lasst uns anstoßen! Auf die Familie!«
»Auf die Familie«, murmelt Nikolaj halblaut. Trixi lehnt sich an ihn. Sie reicht ihm gerade bis zur Schulter. Sie sind ein Traumpaar, denkt Sam, Nikolaj, so groß, schlank, schwarzhaarig, und Trixi mit den braunen Locken und den frechen Sommersprossen, die aussehen, als hätte ein Windstoß sie auf ihrer Nase und ihren Wangen verteilt.
»Tja«, sagt Robert, »es gibt Forelle, als Vorspeise eine Cremesuppe und natürlich Salat. Eure Mutter kann nicht ohne Grünzeug leben.«
Sie setzen sich an den Tisch. Von außen ist alles perfekt, aber Sam hat das Gefühl, sich durch die Konversation schuften zu müssen wie durch drei Stunden Kreativarbeit. Wie so oft bedauert sie, dass Blanca fast nie zu den Familienwochenenden stößt. Bei ihrer Großmutter würde so eine Mahlzeit viel lockerer verlaufen. Sie würden lauter sprechen und alle durcheinander, nebenbei würde ein Radio spielen, die Katze Haare auf frisch gebügelten Hosen hinterlassen. Vielleicht bräuchten wir hier eine Stimmungskanone wie den unbekannten Onkel Fred, überlegt Sam, während sie sich bemüht, Trixi und Nikolaj ins Gespräch zu ziehen. Ihr Bruder ist nie ein großer Redner gewesen.
Trixi jedoch kommt zurecht. Munter schaltet sie sich in die Konversation ein, lächelt, reicht die Salatschüssel weiter, erzählt etwas, strahlt Nikolaj an.
Sie wird es schaffen, denkt Sam. Sie wird es schaffen.
*
»Mutter, hast du einen Moment?«
»Was ist los?«
Sie stehen in der Küche. Das schmutzige Geschirr stapelt sich vor der geöffneten Spülmaschine.
»Ich wollte dir etwas zeigen.«
»Lass uns das erst fertigmachen!« Angewidert blickt Victoria auf das Chaos. »Da hat man lauter Maschinen und fühlt sich trotzdem überfordert.«
»Ich kann das nachher aufräumen. Ich …«
»Sam, was ich dir sagen wollte: Achte ein bisschen auf dein Gewicht, ja?«
Sam spürt etwas Heißes in ihrem Kopf explodieren. Die meisten von Victorias Anwürfen verkraftet sie gut, doch wenn es um ihr Gewicht geht, dreht sie durch. Es trifft sie vor allem deswegen hart, weil sie spürt, dass ihre Mutter recht hat. Sie müsste mehr raus, Sport treiben, joggen. Aber sie hat keine Zeit! Der Job fordert sie, sie sitzt viele Stunden täglich am Arbeitstisch, und danach fehlt ihr der Elan. Wie soll sie das ihrer Mutter erklären, die ihr Atelier vornehmlich zum Wohlfühlen aufsucht?
»Ich …«, beginnt Sam, ohne eine Ahnung zu haben, was sie sagen soll.
»Ich meine nur. Jemand muss dir das sagen. Seit Ralf dich verlassen hat … nun, jetzt hast du kein Korrektiv mehr. Keinen, der dir ehrlich sagt …« Sie legt den Kopf schief. »Hörst du mir zu, Sam?«
Sam schluckt die bleischwere Kugel, die in ihrem Hals festsitzt, hinunter. Sie wird nicht in die Luft gehen. Nicht hier und heute. Es soll gut tun, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, aber Sam hat nicht die Absicht, sich gerade jetzt gehen zu lassen. Streit mit Victoria ist noch anstrengender als das behutsame Umschiffen sämtlicher familiärer Klippen. Zudem hat sie Nikolaj versprochen, für gute Stimmung zu sorgen, damit Trixi hineinwächst. Und zudem ist da das Foto.
»Ich arbeite zurzeit an einem zeitraubenden Projekt, Mutter. Wenn das rum ist …«
»Was du heute kannst besorgen … du weißt schon.« Victoria beginnt, die Teller in die Maschine zu räumen. Sie ist gertenschlank, das cremeweiße Kostüm sitzt wie angegossen. Hat Sam ihre Mutter je in Jeans gesehen? Sie weiß es nicht. Womöglich in Designerjeans.
»Ich bin froh, dass Dad sich von dem ganzen
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