B00DJ0I366 EBOK
Stoff streicht, auf dem rote Rosen aufgestickt sind. Sie scheinen wie Wolken an einem finsteren Himmel zu schweben, und darunter fliegen verträumt aussehende silberne Drachen entlang. Ihre Mutter findet Lunas Sachen mitunter zu dick aufgetragen, aber das Outfit ist goldrichtig für einen öden Auftritt bei Sams Eltern.
Sie räumt ihren Arbeitstisch auf. Gestern Nacht hat sie noch ein Plaid und ein Kissen fertiggenäht. Sie packt die Sachen in einen Karton und räumt die Nähmaschine weg. Am Montag wird sie sich noch einmal mit den Skizzen auseinandersetzen und dann alles wegschicken. Origineller werden ihre Sachen im Augenblick nicht. Besser sie liefert etwas halbwegs Gutes als gar nichts.
In der Küche gießt Sam kochendes Wasser über eine Fertigsuppenpackung. Der künstliche Geruch steigt ihr in die Nase. Sie rührt um und stellt den Timer auf 10 Minuten. Geht zurück ins Wohnzimmer. Sie nimmt das Foto aus dem wattierten Umschlag. Lange dreht sie es in den Händen. Schließlich ruft sie Jerry an.
»Jerry? Mailst du mir das Foto? Du hast doch eine digitale Version.« Im Hintergrund hört sie den Klangteppich eines hektischen Samstagvormittags in der Innenstadt.
»Klar, Hübsche. Sobald ich kann.«
»Thanks, dear.«
Sam geht in die Küche und löffelt die lauwarme Suppe. Jerry ist die Ähnlichkeit zwischen mir und der Unbekannten auch aufgefallen, denkt sie, als sie sich erneut an den Rechner setzt und ungeduldig den Inhalt ihrer Inbox aktualisiert. Nikolaj nicht, doch Brüder sind ohnehin mit Blindheit geschlagen, wenn es um das Aussehen ihrer Schwestern geht.
Endlich trudelt die Bilddatei ein. Aufgeregt klickt Sam auf ›Download‹. Ihre Finger trommeln auf den Schreibtisch. Es kommt ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sich das Foto öffnet.
Jerry hat es noch nicht bearbeitet, es dauert, bis Sam eine Einstellung gefunden hat, die das Bild vergrößert, ohne die Konturen allzu sehr verschwimmen zu lassen.
Es ist mein Gesicht, denkt Sam. Ihr Herz rast, sie hat einen ganz trockenen Mund. Zugleich strömt ihr der Schweiß aus den Poren.
Die ganze Zeit hat sie den Gedanken, der Unbekannten ähnlich zu sehen, prickelnd gefunden. Jetzt bekommt sie es mit der Angst. Sam steht auf und tritt ans Fenster. Es wird bald regnen. Graue Wolken hängen am Turm der Morizkirche fest. Ihr Finger fährt langsam über die Schlieren, die der gestrige Regen und der allgegenwärtige Blütenstaub hinterlassen haben. Dabei weint sie, ohne es selbst zu merken.
8
Sam hastet durch das Gartentor und klingelt an der Haustür. Der Regen strömt nur so herab und die Dämmerung fällt viel zu früh über die Stadt her. In der nassen Tristesse leuchtet das Haus ihrer Eltern einladend hell. Victoria hat ein Faible für schöne Illumination. Hinter jedem Fenster im Erdgeschoss brennt eine Messinglampe. Auch neben dem Gartenweg leuchten Laternen. Sam hört eilige Schritte hinter der Tür. Ihre Hosenbeine sind bis zu den Knien durchnässt, von den Schuhen gar nicht zu reden.
»Komm rein, Tochter!« Robert Förster steht in der Tür, breitschultrig, das braune Haar immer noch voll, wenngleich durchzogen von Frost. Er wirkt gelöst und fröhlich, längst nicht mehr so angespannt wie im letzten Jahr, als seine Firma kurz vor dem Bankrott stand.
»Hi, Dad!« Sie küsst ihn auf die Wange. »Wie geht’s?«
»Gut geht’s. Schön, dass du hier bist. Nikolaj und Trixi sind schon eingetrudelt.«
Sam lugt an ihrem Vater vorbei.
»Deine Mutter ist in der Küche beschäftigt. Mit dem Grillen wird es nichts.« Er seufzt. »Keine Bange. Sie benimmt sich anständig.«
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Komm schon! Nikolaj hat dich von jeher eingespannt, wenn es drum ging, dass deiner Mutter irgendwas verklickert werden muss, was er ausgefressen hat.«
»Dad!« Sam lacht. »Nikolaj hat selten was ausgefressen, und eine neue Freundin ist ja wohl was anderes als ein Schülerstreich oder ein eingeworfenes Fenster.«
»Sie ist klasse, die Trixi.«
Sam mustert ihren Vater verstohlen. Er sieht gut aus. Die Anzeichen der Erschöpfung in seinem Gesicht, die tiefen Schatten unter seinen Augen und sein abwesender Blick haben sich verflüchtigt. Der Firma geht es inzwischen gut. Robert Förster hat ausreichend Kraft, bis zu seinem 65. Lebensjahr weiterzumachen. Wahrscheinlich hofft er weiterhin, dass sein Sohn Igor die Firma übernimmt. Da kann er lang warten, denkt Sam, als sie hinter ihrem Vater her ins Wohnzimmer geht. Igor wird nie nach Coburg zurückkommen,
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