B00DJ0I366 EBOK
Stress letztes Jahr erholt hat«, lenkt Sam von sich selbst ab.
»Das kannst du laut sagen.« Victoria richtet sich geschmeidig auf. »Seine Geldsorgen sind vorbei. Dank Ralf übrigens.«
Sie kann es nicht lassen, mir reinzureiben, dass Ralf eine super Partie war. Wegen seines stinkreichen Vaters, denkt Sam wütend.
»Ralf hat mich verlassen, Mutter. Nicht ich ihn.« Und er hat mich wegen meiner Familie verlassen, wegen der Glasglocke, die ihm übergestülpt wurde und unter deren paranoidem Zusammenhaltgeschwafel er keine Luft mehr bekam.
Das hat sie niemandem außer Luna erzählt. Nicht einmal Nikolaj. Sie will ihm keine Angst machen, jetzt, wo er so glücklich mit Trixi ist. »Außerdem hat sein Vater mit dem Deal ein Geschäft gemacht.«
»Sicherlich, aber er hätte sich nie darauf eingelassen, wenn er nicht die Gewissheit gehabt hätte, dass unsere Familie hundertprozentig zu ihrem Wort steht.«
Sam ordnet Messer und Gabeln in die Besteckfächer, ignoriert das Pochen hinter ihrer Stirn. »Was ich dich fragen wollte, Mutter: Könntest du einen Blick auf das Foto werfen, von dem ich neulich am Telefon gesprochen habe?« Ich rede mit meiner Mutter wie mit meiner Kreativdirektorin, schießt es Sam durch den Kopf. Zuvorkommend und rücksichtsvoll. Und unecht.
Victoria trocknet sich die Hände ab.
»Natürlich.«
Sam holt ihre Tasche und reicht ihrer Mutter das Foto.
Dabei sieht sie auf Victorias Hände, auf denen sich Altersflecken gebildet haben und die Adern überdeutlich hervortreten. Sie wird alt, denkt Sam. Sie verbirgt es geschickt, aber sie wird alt. Victoria hält das Foto weit von sich weg. Ausdruckslos blickt sie auf die beiden Frauen.
»Ja, das war Griechenland.« Victorias Mund verzieht sich. »Peloponnes.« Sie spitzt die Lippen. Winzige, scharfe Fältchen durchziehen ihre Haut. »Wunderbare Landschaft. Anfang der 80er noch weitgehend touristenfrei.«
Sie wischt die Arbeitsplatte ab, bevor sie das Foto ablegt.
»Wer ist die Frau neben dir?«
»Ich kann mich nicht erinnern.« Victoria sieht aus dem Fenster. Es hat aufgehört zu regnen. Die Nacht hat sich breitgemacht, doch durch die Wolkenlücken scheint jetzt der Mond. »Ich glaube, sie hieß Melia oder Melissa. Eine Griechin. Wir reisten einige Tage zusammen. Sie kannte interessante Orte, wo es sich lohnte, zu bleiben und zu malen.«
»Und der Mann in dem Wagen?«
Einmal mehr hält Victoria das Bild von sich weg. Sam hat den Eindruck, sie sieht an dem Foto vorbei auf den Küchenboden.
»Jemand, der uns chauffierte. Ich war damals keine sehr geübte Fahrerin und hatte Bedenken, auf eigene Faust im Mietwagen herumzureisen. Wie er hieß, weiß ich nicht mehr. Liebling, das ist 30 Jahre her. Du willst diese Aufnahme doch nicht etwa in der Ausstellung zeigen?«
»Wenn diese Melia inzwischen eine berühmte griechische Künstlerin wäre, würde es sich anbieten.«
»Ich habe jeden Kontakt zu ihr verloren.« Victoria legt das Foto weg mit einer Geste, die signalisiert, dass sie es nicht noch einmal ansehen wird. »Espresso? Latte macchiato?«
*
Sam wälzt sich im Bett. Trotz der Kühle der Nacht kommt ihr die Luft in der Wohnung stickig vor.
Sie hat alles richtig gemacht. Trixi integriert, Nikolaj aufgemuntert, sie war nett zu ihrem Vater und hat Victoria keine Szene gemacht, als sie ihrer Tochter die zugelegten Kilos vorwarf. Hat stattdessen Victorias Erklärungen zu dem Foto akzeptiert, ist nicht weiter darauf herumgeritten.
Diese endlose Klammerei, denkt Sam. Ich sollte wegziehen. Nach Berlin, Köln oder gleich nach Paris oder Warschau. Oder Albany. Joanie kommt ihr in den Sinn. Sie steht auf und fährt den Computer hoch. Heute Nachmittag, bevor sie zu ihren Eltern aufbrach, hat sie ihrer amerikanischen Cousine das Foto gemailt. Doch in ihrem Postfach wartet keine neue Mail.
Sam macht sich daran, nach einer griechischen Künstlerin namens Melia oder Melissa zu googlen. Ohne Erfolg. Ich müsste wenigstens den Nachnamen haben, grübelt Sam, einen Blick auf das verräterische Foto werfend, das sie neben den Computer gelegt hat. Sie öffnet das Fenster. Die Morizkirche steht da wie ein großer Schatten. Der Mond gleitet hinter eine Wolke. Tief atmet Sam die kalte Luft ein. Die Frische tut ihr gut.
Na dann, denkt sie. Die Unbekannte ist eine Reisebekanntschaft.
Sie lässt das Fenster offen, schaltet den PC aus und legt sich wieder hin. Das erklärt nicht, warum ich ihr ähnlich sehe. Und wenn das ein Zufall ist – warum musste Blanca
Weitere Kostenlose Bücher