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haben, denkt sie. Trotz der Unsicherheit, wie alles weitergeht. Sie waren sich immer nah, aber nie so nah wie jetzt. Vereint in tausend Fragen und finsteren Ängsten.
»Was, wenn die Presse die Story knackt und alles aufkommt?«, fragt Sam leise. »Dass Victorias Lebenswerk nachgemacht ist?«
»Das müssen wir sehen.«
»Und – das andere? Dass Eleni Grace ist? Noch einmal kann sie nicht verschwinden.«
»Sie ist inzwischen ja ein zweites Mal verschwunden, Liebes.«
Eine Weile schweigen sie. Sie hören gedämpft die Musik, die Luna im Atelier laufen hat.
»Hast du Isaac geliebt, Blanca?«
»Geliebt und gehasst. Beides. Das ist nicht so ungewöhnlich bei Paaren. Falls du jetzt denkst, ich wäre froh gewesen, dass er gestorben ist, so muss ich ›nein‹ sagen. Weil die Liebe letzten Endes überwiegt. Weil die Freude, einander zu haben, stärker ist als alle Streitereien. Weil die Einsamkeit in einem leeren Haus grauenhaft ist.« Blanca stemmt sich auf ihren Ellenbogen und sieht Sam an. Sanft streicht sie ihrer Enkelin mit dem Finger über die Stirn. »Aber das allergrößte Glück in meinem Leben bist du, Sam. Und alles, was ich in meinem Leben getan habe, habe ich mit dem Gedanken getan, dass es die beste Lösung für dich sein muss.«
65
Der große Tag. Der Tag für Victorias Kunst und, wenn es dumm läuft, der Countdown für die Mays als Familie.
Um sieben Uhr morgens ruft Robert auf Sams Handy an. Sie antwortet verschlafen.
»Hallo?«
»Sam? Hier ist dein Vater. Es geht doch alles in Ordnung?«
»Dad, weißt du, wie spät es ist?«
Er lacht nur leise in den Hörer.
»Und weißt du zufällig, wann die Vernissage anfängt? Um elf! Noch glatte vier Stunden.«
»Wo bist du? Kann ich mit dir frühstücken?«
»Blanca und ich wohnen bei Luna. Es …« Sam richtet sich endlich auf. Blanca liegt nicht mehr neben ihr. Sie scheint irgendwo leise mit Geschirr zu hantieren. »Es ist jetzt alles zu mühsam zu erzählen. Ein Journalist hat sich an meine Fersen geklemmt, und ich wollte mich einfach für eine Weile entziehen.«
»Geht es Blanca gut?«
Blanca taucht gerade neben dem Futon auf, eine Tasse frisch aufgegossenen Tee in der Hand. Sie zwinkert Sam zu.
»Es geht ihr gut. Wie geht es Mutter?« ›Mutter‹ sprudelt Sam leicht über die Lippen. Sie fragt sich, ob sie sich je umgewöhnen, jemals dieses subtile Wort für eine andere Frau verwenden kann. Für eine, die froh war, sie loszuwerden, irgendwie.
»Sie hat sich im Hotel eingeigelt. Bei ihr war auch ein Journalist. Einer von ›Artes‹.«
»Das hatte ich befürchtet.«
»Bitte, Sam: Victoria verdient diesen Tag. Egal, welche Vorbehalte du hast.«
»Hast du mit Eva Schluss gemacht?«
»Habe ich.«
Sam klemmt das Telefon zwischen Kinn und Schulter und betrachtet dabei ihre Hände. »Ich weiß jetzt alles, Dad.« Mehr kann sie nicht sagen. Etwas schnürt ihr die Kehle ab.
»Du …« Es ist still in der Leitung.
Blanca nimmt ihr das Telefon ab. »Ich habe ihr alles erzählt, Robert. Alles. Punktum.« Sie lauscht einen Augenblick. »Ich denke schon, dass ich weiß, was ich tue. Wir sind um zehn am Kongresshaus.«
Sie drückt die rote Taste. »So. Das hätten wir.«
»Danke.«
»Wofür?«
Sam kann nicht antworten. Die Tränen sind jetzt weit oben in ihrem Hals, der Dammbruch steht kurz bevor. »Ich gehe mal duschen«, murmelt sie.
*
Sie frühstücken und jede der drei Frauen wirft sich anschließend in Schale. Luna ist die Letzte im Bad.
»Es ist viel zu warm für einen Hosenanzug«, seufzt Blanca, während sie in der Küche mit einem Handspiegel hantiert und sich einen Lidstrich zieht.
»Du wirst sehen, der Stoff ist ein Traum«, widerspricht Sam. Sie muss sich jetzt auf normale Dinge konzentrieren. Nicht an Grace denken, nicht an das dumme Wort ›Mutter‹.
»Na, wenn du meinst«, brummt Blanca, während sie in die schwarzen Reeboks schlüpft. »Wenigstens kann ich mir die High Heels in meinem Alter verkneifen.«
Dafür stöckelt Luna auf Absätzen in Überlänge aus dem Bad. Das rote Ensemble passt zu ihrem Haar, sie trägt die Stola lässig über den nackten Schultern. Es sieht aus, als stünde die ganze Luna in Flammen. »Ladys? Alles bereit?«
»Klar.« Sam hat sich großzügig geschminkt, den Stift benutzt, der ihrem Gesicht einen goldenen Schimmer verleiht, und nun fühlt sie sich gewappnet.
Draußen scheint die Sonne von einem gleißend blauen Himmel. Sam stellt sich grüne Wiesen mit roten Mohnblumen vor. Wenn sie
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