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Liebe des Vaters allerdings war immer unerreichbar für Victoria.
Traurig, denkt Blanca.
Und dann starb Isaac, und Vater und Tochter hatten keine Gelegenheit, sich auszusprechen.
Robert kam zu Blanca in jener Nacht.
»Ich muss dir etwas sagen.« Er stand vor der Tür, tropfnass, aus der Fassung. »Isaac …«
Damals hatte eine eisige Faust Blancas Herz beinahe zerdrückt.
»Was ist mit Isaac?«, fragte sie.
»Er hatte einen Herzinfarkt. Blanca – er ist tot!« Robert nahm Blanca bei den Schultern und führte sie ins Haus, das noch nicht allzu lange zuvor Grace’ Heim gewesen war. In ein Haus, in dem sie von nun an allein leben würde. Dieser Gedanke schoss Blanca durch den Kopf, blockierte alles andere: die Trauer, die Fragen, die Zweifel. Sie würde allein sein. Allein. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider.
Sie und Isaac waren erst ein halbes Jahr vorher in das Haus gezogen. Raus aus der Innenstadt, das wollte Isaac. Er wollte einen Garten und freute sich auf den Sommer, auf die Stockrosen, auf Dahlien und Astern, auf die Obsternte. Grace hatte den Garten liebevoll gepflegt. Blanca hat natürlich geahnt, dass der Umzug in Grace’ Haus ihn der verlorenen Tochter näherbrachte.
Als Robert vor der Tür stand, als Blanca vorausahnte, dass Isaac nicht mehr kommen würde, da fürchtete sie sich vor der Verlassenheit in dem großen Haus. Nur Sam und später Igor und Nikolaj füllten die Leere aus.
Robert kannte ausschließlich Victorias Version des Abends, und die gab er zum Besten.
»Isaac wollte sich mit Victoria aussprechen«, fing er an. »Es wurde wirklich Zeit. Dass sie sich näherkamen, meine ich.« Roberts Hände verkrampften sich ineinander. »Isaac kippte ganz plötzlich vom Stuhl. Victoria versuchte, ihn wiederzubeleben. Es war zu spät.« Roberts Stimme brach.
Er hat seinen Schwiegervater sehr geliebt, erinnert sich Blanca. Robert bewunderte Isaacs berufliche Erfolge, schätzte seinen Mut, in einem fremden Land neu anzufangen. Sie weiß auch, dass Robert nie verstanden hat, warum Victoria auf ihren Vater so schlecht zu sprechen war.
Eine Schwester betritt den Raum, macht sich an der Infusion zu schaffen. Blanca blinzelt.
»Geht es Ihnen gut?«, fragt die Schwester freundlich.
»Ich denke schon«, antwortet Blanca. Tatsächlich, sie fühlt sich gut. Sie ist müde, fühlt sich seltsam losgelöst von den Dingen, die um sie geschehen, aber es geht ihr gut.
»Bestimmt können Sie bald nach Hause.«.
»Das wäre schön.« Blanca hat keine Eile, in die Einsamkeit ihres Hauses zurückzukehren. In diesem stillen, weißen Zimmer fällt es ihr leichter, Bilanz zu ziehen.
Robert sprach davon, dass Isaac getrunken hätte.
Isaac hat so gut wie nie getrunken. Nur, wenn er völlig aus dem Häuschen geriet. Und selbst in solchen Situationen gelang es Blanca jedes Mal, ihm nach zwei Drinks das Glas aus der Hand zu nehmen, ihn auf den Teppich zu holen.
Er war nervös, in jenem Frühjahr 1983. Sie dachte, das sei normal. Als das Unglück sich jährte, wurde sie selbst unruhig. Das Entsetzen über Grace’ Tod war längst nicht abgeflaut. Oft schlugen finstere Wellen der Trauer über Blanca zusammen, und Isaac ging es nicht anders. Doch während Blanca ihre Kleidungsstücke in gedeckten Farben allmählich wieder gegen buntere austauschte, sich um Sam kümmerte, für Victoria und Robert da war, vergrub Isaac sich in Papiere und Geschichten. Sie ahnte, dass die intensive Recherchearbeit, die er betrieb, nicht unbedingt immer mit seinen Aufträgen für Magazine zu tun hatte. Dass es um eine Story ging, die mit ihm selbst verbunden war.
In jenem Frühjahr war Isaac mehr als sonst unterwegs. Und er wartete auf Post. Weil er meistens von zu Hause aus arbeitete, war er der Erste, der zum Briefkasten eilte, sobald das gelbe Postauto hinter der Hecke auftauchte.
Blanca wälzt ihre Erinnerungen hin und her. Das Bild in ihrem Geist wird schärfer. Sie wünscht, sie könnte mit Sam sprechen. Die vielen Mosaikstücke ineinanderfügen. Als sie zusammenbrach vor ein paar Tagen, da sah sie im Fallen, wie Sams Lippen den Namen Grace formten. Gespreizte Lippen, ein halb geöffneter Mund.
Grace.
Blanca klingelt nach der Schwester.
»Würden Sie meine Enkelin anrufen? Sam? Ich möchte unbedingt mit ihr sprechen.«
»Es ist sehr spät, Frau May«, entgegnet die Schwester.
»Sagen Sie ihr, es ist nichts Schlimmes. Es geht mir gut. Ich möchte bloß mit ihr sprechen. Und es kann nicht bis morgen warten.«
21
Sam
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