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abgöttisch. Sie war das erste Kind, ein Mädchen. Väter verlieben sich mitunter in ihre Töchter. Das zweite Mädchen spielte für deinen Großvater keine Rolle mehr. Er war immer auf Grace fixiert.«
Sam senkt den Kopf.
»Grace sah aus wie du, Sam. Du hast die Ähnlichkeit auf dem Foto bemerkt. Sie war dir auch, wie soll ich sagen, vom Charakter her sehr ähnlich. Meistens eher ruhig, als Kind fast schüchtern. Das Resolute kam erst später. So mit Anfang 20.« Blanca schweigt eine ganze Weile. Über den Gang hasten Schritte. Irgendwo klingelt ein Telefon. »Victoria war ein Wirbelwind, der sich nichts aus Verboten machte, Gehorsam nicht kannte. Man musste anders mit ihr umgehen als mit Grace, die Erziehung war nicht leicht. Ich versuchte immer, sie durch Argumente zu überzeugen, dies oder jenes zu tun oder zu lassen. Dein Großvater kannte nur Befehle. Grace gehorchte, Victoria nicht. Er hatte keine Geduld und kein Interesse, Victoria besser, überlegter zu behandeln. Isaac war ein Sturkopf.«
Sam sieht ihre Mutter vor sich. Die Kleine, die links liegen gelassen wird und sich wehrt.
»Die beiden Schwestern haben gestritten, dass die Fetzen flogen. Und als sie in die Pubertät kamen, wurde alles noch schlimmer. Victoria stibitzte ab und zu einen Pulli oder einen Rock von Grace. Wenn es rauskam, schlachteten sie einander beinahe ab. Isaac schlichtete stets zugunsten von Grace. Ich habe alles getan, um zu vermitteln, um Victoria das Gefühl zu geben, dass sie geliebt und getragen ist, von beiden Eltern, doch sie entwickelte nie ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem Vater, und ich muss sagen, obwohl es mir weh tut, dass Isaacs Tod sie nicht sonderlich traurig gestimmt hat.«
Blanca schweigt wieder. Sie schließt die Augen. Die Tränenspuren in ihrem Gesicht sind getrocknet. Sam reibt sich die Stirn. Manches an Victorias Verhalten wird ihr jetzt klar. Die Kompromisslosigkeit. Das vorgereckte Kinn. Der unbedingte Wille, sich durchzusetzen.
»Grace’ Tod hat Victoria zutiefst erschüttert«, lässt Blanca sich vernehmen. Sie spricht mit geschlossenen Augen, als liefe ein Film hinter ihren Lidern. »Als sie aus Griechenland zurückkehrte, allein, ohne ihre Schwester, war sie verändert. Sie war komplett aus der Bahn geworfen. Dir zuliebe haben wir uns zusammengerissen. Wir hatten ein Baby im Haus, für das wir sorgen mussten. Du siehst«, Blanca schlägt die Augen auf, »wir haben schon immer auf dich gezählt.« Sie lächelt Sam warmherzig an.
Sam sieht auf den Boden. »Wenn sie einander so verabscheuten, warum sind sie zusammen nach Griechenland gefahren?«
»Es sollte eine Inspirationsreise sein. Grace«, Blancas Stimme bricht, sie hustet, räuspert sich, »war außerordentlich begabt. Konnte karikieren, in wenigen Strichen, hatte gute Ideen, aber im vorausgegangenen Winter rutschte sie in ein Loch.« Blanca hält inne. Sam wartet. Sie denkt an den Auftrag, den sie verbummfidelt hat, weil sie nicht kreativ genug, nicht originell genug gearbeitet hat. Weil sie schlicht nicht gut genug ist für ihren Job.
»Victoria ist ebenso eine Künstlerseele, nur mit einem anderen Ansatz, als Grace das war.« Blanca ringt um Worte. »Grace war sehr abhängig von Stimmungen, wenn sie malte. Victoria malte nach Stundenplan, wie eine Büroangestellte. Dadurch brachte sie viel mehr zustande als Grace. Grace war oft unzufrieden mit ihren Ideen und warf sie weg, bevor aus ihnen etwas werden konnte. Langer Rede kurzer Sinn, Victoria tat es leid, wie Grace sich quälte, und sie lud sie auf eine Inspirationsreise ein. Sie wollten nach Griechenland. Beide hatten nicht viel Geld, Griechenland war günstig, ein sonniges Land, wo man auftanken konnte …«
»Haben sie sich vertragen?«
»Nun, Liebes, sie waren längst erwachsene Frauen, nicht mehr abhängig von ihren Eltern, sondern frei, den Weg zu gehen, den sie sich aussuchten.«
Sam nimmt den Abzug aus der Tasche, den Jerry insgesamt vergrößert und scharfgezeichnet hat, und reicht ihn stumm an Blanca weiter.
Blanca setzte sich im Bett auf, sieht sich das Bild eine Weile an. Aufs Neue laufen Tränen über ihr Gesicht. Sie wischt sie weg. »Ich könnte so stolz auf sie beide sein, weißt du.«
Sam sagt nichts. Sie sitzt einfach da und fühlt die Trauer ihrer Großmutter, gleitet mit ihr durch die Zeit zurück, zu Erinnerungen, die sie nicht teilt, aber deren Emotionen auf sie abfärben.
»Wer ist der Mann im Hintergrund?«, fragt Sam irgendwann.
»Ich kenne ihn
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