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gemalten Bilder.« Sie schreiten durch die riesige Halle. Das Sonnenlicht flutet durch die Panoramafenster, die auf den Rosengarten hinausgehen. Noch blüht dort keine einzige Rose, aber man kann ahnen, welche Pracht sich in wenigen Wochen entfalten wird.
»Gute Idee. Impulse, Höhepunkte, das macht sich professionell. Es geht ja hauptsächlich um Frau Mays Werk, wenn ich das richtig verstanden habe«, bestätigt Frau Hartmann. »Weniger um ihre Person.«
Sie fachsimpeln eine Weile weiter, Frau Hartmann macht Notizen und bittet Sam um ihre Unterlagen.
»Ich muss los«, bemerkt Nikolaj mit einem Blick auf die Uhr. »Danke für Ihre Zeit, Frau Hartmann.«
»Ja, vielen Dank«, echot Sam.
Die Managerin hebt die Ausdrucke hoch. »Ich habe fürs Erste, was ich brauche. Schönen Tag!«
*
Vor dem Kongresshaus verabschiedet Nikolaj sich eilig. Sam sieht im nach, wie er durch das Ketschentor läuft, eines der drei noch erhaltenen Stadttore, mit wiegenden Schritten, und dabei mehrmals auf seine Uhr schaut.
Der Tag ist so schön. Der warme Wind, das Gefühl von Frühling, der mit Macht seinen Platz beansprucht, heben Sams Lebensgeister. Sie beschließt, über den alten jüdischen Friedhof nach Hause zu gehen. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung ist es sogar eine Abkürzung, und sie erspart sich die Hektik im Zentrum. Auf dem Friedhof muss es jetzt wunderschön sein, wenn die vielen alten Bäume ausschlagen, aber noch genug Licht durch ihr hellgrünes Blattwerk sickern lassen, um dem Ort seine Düsternis zu nehmen. Erst im Sommer, unter dem dann dichten Laubdach, wirkt der Friedhof traurig und vernachlässigt. Schon als Kind mochte Sam die verwitterten, moosbewachsenen Grabsteine.
In Gedanken versunken biegt sie hinter dem Gerichtsgebäude in die Casimirstraße und geht ein paar Meter neben der Friedhofsmauer, bis sie durch den Torbogen tritt. Obwohl der Frühlingstag so hell und freundlich ist, nisten hier auf dem Friedhof lange, tiefe Schatten. Unwillkürlich kriecht Gänsehaut über Sams Arme. Schlagartig ergreift sie Unwohlsein; sie kämpft gegen den Impuls, sofort wieder zurück auf die Straße zu treten und einen anderen Weg nach Hause zu nehmen.
Sam versteht ihre Beklommenheit nicht. Die Bäume schmücken sich mit feinen, beinahe transparenten hellgrünen Blättchen. Die Erde riecht feucht, ein wenig modrig, und in den Sonnenstrahlen, die durch das Laub fallen, tanzen Mücken. Sam blickt über die Hügel, die Grabsteine, auf das Gymnasium am anderen Ende. Es vergehen ein paar Sekunden, bis sie herausfindet, was sie erschüttert. Bis sie das Pärchen sieht. Die beiden sitzen auf einem umgekippten Grabstein, eng aneinander geschmiegt im Halbschatten. Der Mann hat den Arm um die Schultern der Frau gelegt. Ihr blondes Haar ist hochgesteckt, eine Strähne hat sich gelöst und fällt über den Arm des Mannes. Die Schatten der Blätter, die im Wind schwanken, tänzeln über das Paar hinweg. Die beiden sprechen nicht, sitzen nur da, selbstvergessen.
Sam hält den Atem an.
Der Mann ist ihr Vater.
29
Blanca vertreibt sich die Zeit, in der Sam weg ist, und klettert auf den Dachboden. Sie freut sich, ihre Enkelin für eine Weile im Haus zu haben, aber sie fühlt sich auch beobachtet, spürt ständig Sams ängstliche Blicke auf sich gerichtet. Blanca ist es nicht gewöhnt, im Zentrum besorgten Interesses zu stehen. Sie hält sich für gesund und fit, abgesehen von den Schmerzen in der Hüfte, die erstaunlicherweise seit ihrem Krankenhausaufenthalt nachgelassen haben. Den Schlaganfall ignoriert sie. Sie nimmt die Medikamente, die ihr verschrieben wurden, und damit hat es sich. Blanca hat kein Interesse daran, ihre Lebenslust zugunsten anhaltender Angst vor einem zweiten Hirninfarkt aufzugeben. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei, denkt sie forsch, als sie die Leiter zum Dachboden hinaufsteigt.
Sollte Sam hier ein weiteres Mal auf die Suche gehen, muss alles clean sein. Blanca hat, als sie Tabula rasa machte, alles wegräumte, was die Nachwelt nicht mehr sehen sollte, ein Versteck für ihre Erinnerungen angelegt. Eines, das niemand kennt außer ihr selbst. Denn es ist eine Sache, den Enkeln die Existenz eines Familienmitglieds zu verschweigen. Eine andere wäre es, die fragliche Person in ihrem eigenen Gedächtnis auszulöschen. Unmöglich! Blanca hat nie recht an die biologische Mutterliebe geglaubt. Säuglinge und kleine Kinder fordern Schutz und Sicherheit, Essen, Trinken, das ganze Programm. Teenager wollen sich lösen, und
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