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Titel: B00DJ0I366 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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einen Unfall.«

36
    Victoria sitzt im Wohnzimmer, die Füße hochgelegt, ein Kissen im Rücken. In ihrem Gesicht und auf ihren Armen und Händen befinden sich unzählige Kratzer und winzige Schnittwunden.
    »Der Arzt meint, es ist eine Sache von Tagen, bis alles unsichtbar wird«, erläutert Victoria. »Bis zur Ausstellung sehe ich also längst wieder normal aus und nicht wie ein Zombie.« Euphorisch strahlt sie Sam, Blanca und Robert an.
    Sam beißt sich auf die Lippen. Sie kann Victoria nichts von John Carrick und seinen Fotos sagen. Nicht jetzt, nach diesem Schock. Victorias Wagen hat einen Totalschaden, während die Fahrerin mit harmlosen Schrammen davongekommen ist. Kein Wunder, dass Victoria ziemlich überdreht ist.
    Obwohl Sam nicht vorhat, in dieser Situation von John Carrick anzufangen, sieht sie ihre Mutter zum ersten Mal als Betrügerin. Was ihr zuvor nie in den Sinn gekommen wäre, steht nun zwischen ihnen: Dass Victorias Erfolg in der Welt der Kunst auf den Ideen, der Originalität und dem exzessiven Schaffen ihrer Schwester beruht. Einer Schwester, die verheimlicht wurde.
    Blanca sitzt neben Victoria. Sie ist blass, verständlich nach dem Schrecken über Victorias Unfall.
    »Unsere Familie hat so viele Katastrophen ertragen«, sagt Victoria zu ihrer Mutter. »Das hier ist eine Kleinigkeit.«
    Sam wendet sich ab. Victoria sieht wie immer nur sich selbst. Sie betrachtet ihr eigenes Leid und ihr eigenes Überleben stellvertretend als das Schicksal der ganzen Familie. Wahrscheinlich, denkt Sam plötzlich, hat sie nicht einmal ein Unrechtsbewusstsein. Als gehörten ihr Grace’ Ideen mit deren Tod automatisch, wie eine Art natürliches Erbe.
    »Es ist keine Kleinigkeit«, widerspricht Sam. Blanca schaut sie an, alarmiert. Robert dreht sich zu ihr. Er hat gerade Tee aufgegossen und stellt die Kanne auf den Tisch.
    »Was meinst du?«, fragt er.
    »Ihr seid alle Betrüger!« Sam atmet schwer. Etwas Dunkles breitet sich im Raum aus. Es ist später Nachmittag, und das Wetter hat sich nicht gebessert. Der dichte Bewuchs im Garten verfinstert zusammen mit den fast schwarzen Wolken die Atmosphäre im Zimmer. »Jeder von euch lügt und betrügt und gibt vor, im Sinne der Familie zu handeln.«
    »Sam!«, schneidet ihr Victoria mit scharfer Stimme das Wort ab. »Was redest du da?«
    Täuscht Sam sich? Sieht sie ein klein wenig Angst im Gesicht ihrer Mutter aufflackern?
    »Ihr verschweigt Grace, ein Mitglied eurer ach so geehrten Familie. Alle zusammen habt ihr meinen Brüdern und mir die Tante weggenommen. Und du, Mutter, du nutzt deine Schwester heute noch aus. Du lebst auf ihre Kosten, fährst deine Erfolge an ihrer statt ein und findest das wahrscheinlich sogar in Ordnung.«
    Blanca wird ein wenig blasser. Aber sie sagt kein Wort. Sie presst die Lippen zusammen und mustert konzentriert den Teppich zu ihren Füßen. Robert gibt den Versuch auf, die Tassen mit Tee zu füllen. Seine Hände zittern zu stark. Ein wenig Tee schwappt aus der Tülle der Kanne und malt einen braunen Fleck auf das blütenweiße Tischtuch.
    »Blanca und ich haben die Fotos gesehen. John Carricks Fotos.«
    Victorias Augen erscheinen ihr riesengroß.
    »Du hast Grace’ Bilder plagiiert, Mutter.«
    Die Stille im Raum ist scharf wie ein Messer. Victoria, in ihrer Rolle als Überlebende einer Katastrophe soeben voll aufgegangen, lässt sich stöhnend ein wenig tiefer ins Kissen sinken. »Sam«, beginnt sie, »jetzt ist nicht der Augenblick …«
    »Der Augenblick ist nie der richtige«, kommentiert Sam knapp. »Wer weiß, was ihr sonst alles vor mir geheim haltet. Welche grauenvollen Taten noch ans Licht kommen. Ihr könnt sicher sein: Ich finde es raus. Ich lasse mich nicht mehr terrorisieren von dem Familienklüngel und dem Samstagsessen und dem obligatorischen Friedhofsgang.«
    Robert legt eine Hand auf Sams Schulter. »Lass es gut sein«, bittet er. »Victoria steht nach dem Unfall unter Schock. Wir können darüber reden. Nur nicht jetzt.«
    »Nicht jetzt heißt: nie!« Sam hasst ihre eigene Stimme, die schrill durch den Raum gellt, in ihren Ohren schmerzt und sich klirrend gegen die Fenster wirft, als wolle sie dringend aus diesem Raum entkommen. »Ich weiß nicht, was Grace dir getan hat, Mutter, dass ihr alle sie verschwiegen habt. Dass sie doppelt gestorben ist. Einmal in Griechenland und ein endgültiges, zweites Mal in eurem Gedächtnis.«
    Sam dreht sich auf dem Absatz herum und läuft aus dem Zimmer, aus dem Haus. Sie reißt das

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