B00DJ0I366 EBOK
Gartentor auf, das lautlos hinter ihr zufällt, und eilt den Glockenberg hinunter.
Als sie bei ihrer Wohnung ankommt, ist sie völlig aus dem Häuschen. Sie schließt auf, wirft sich aufs Sofa und weint.
Sie hat alles zerstört. Ihre Familie, ihren einzigen Halt, sie hat ihn abgeschnitten, wie man einen Ast absägt. Unheilbar, nicht rückgängig zu machen. Sie stellt sich vor, wie Victoria, Blanca und Robert Kriegsrat halten. Wie sie schon einmal eine verschworene Sitzung abhielten. Vor 30 Jahren. Und einen Entschluss fassten, an dem Sam heute verzweifelt.
Sie werden etwas Neues aushecken, denkt sie. Etwas, womit sie mich im Griff behalten.
Das Telefon klingelt, es ist Nikolaj. »Wie geht es Mutter?«, fragt er. »Dad hat mich angerufen. Wie konnte das passieren?«
»Es geht ihr gut«, presst Sam hervor, obwohl sie den Eindruck hat, ihre Lippen würden die Worte nicht mehr hergeben.
»Ich konnte noch nicht bei ihr vorbeischauen. Ich habe den ganzen Tag Patienten. Heute Abend …«
»Nikolaj, wir müssen reden.«
»Klar. Klar.« Er klingt fahrig und gestresst. »Nach der Arbeit? Ich rufe dich an.«
»Es ist wichtig«, insistiert Sam.
»Geht klar.« Er legt auf.
Sam wird von einem gewaltsamen Drang erfasst, zu reden, diese ganze Geschichte hundertmal zu drehen und zu wenden, bis sie das vollständige Ausmaß begreifen kann. Sie wählt Lunas Nummer. Der Anrufbeantworter meldet sich, den Luna meist zwischen sich und die Welt schaltet, wenn sie kreativ arbeitet. Sam hinterlässt keine Nachricht.
Stattdessen wählt sie Romans Nummer.
*
Roman kommt eine Stunde später. Sie gehen zusammen los, etwas essen, denn Sam verspürt einen unguten Hunger, der sie fast zusammenbrechen lässt. Roman schlägt das Thai-Restaurant unweit des Theaters vor. Die Einrichtung, wenngleich auf asiatisch getrimmt, erinnert mehr an eine Bierkneipe aus den 70ern als an ein thailändisches Lokal. Die Hälfte der Tische ist besetzt, meist mit Paaren oder kleinen Cliquen, die nach der Arbeit gemeinsam essen gehen. Ein angenehmes Gemurmel schwebt durch den Raum, zusammen mit dem Musikprogramm von Radio Eins.
Sam bestellt ein Curry mit Rindfleisch, neben der Beschreibung auf der Speisekarte sind drei Peperonischoten abgebildet, was bedeutet, dass nur Hartgesottene mit der Schärfe umgehen können. Roman wählt dasselbe. Der Wirt bringt Jasmintee an ihren Tisch.
Als er hinter der Theke verschwunden ist, fängt Sam an. Sie redet über Johns Besuch. Der Mann hat Blancas Haus fluchtartig verlassen, nachdem Roberts Anruf kam und Sam und Blanca in die nächste Agonie fielen. Sie hat keine Ahnung, in welchem Hotel er wohnt.
Roman hört unbewegt zu.
Als Sam endet, fragt er: »Möchten Sie, dass wir John Carrick suchen?«
»Ja. Ich will wissen, was er jetzt vorhat.«
»Gut.« Roman nickt.
Das Curry wird serviert. Sam häuft sich Essen auf ihren Teller. »Verstehen Sie? Ich frage mich, was es sonst alles gibt, das meine Familie nie rausgelassen hat. Dinge, die unter dem Deckel gehalten werden. Warum haben sie Grace verschwiegen, meinen Großvater aber nicht?«
Roman nimmt einen Löffel Curry. Er wird rot im Gesicht, fächelt sich mit der Serviette Luft zu. Sam probiert ebenfalls. Normalerweise liebt sie scharfes Essen, heute hat sie eine richtige Sucht danach. Die Schärfe des Essens ist so unmittelbar, so deutlich, dass sie für Sekunden keinen Raum mehr hat, um andere Dinge wahrzunehmen.
»Einen Großvater muss jeder Mensch haben. Eine Tante nicht unbedingt«, sagt Roman. Er keucht, als atme er feurigen Dampf aus.
»Stimmt. Trotzdem ist es herzlos. Zumal von Blanca.« Ihrer Großmutter hat Sam einfach nicht zugetraut, die eigene Tochter totzuschweigen.
»Warum hat Blanca sich bereiterklärt, weiterzuleben, als habe Grace nie existiert?«, fragt Sam. »Das verstehe ich nicht.« Einzig und allein für etwas wirklich extrem Wichtiges traut sie Blanca einen solchen Verrat zu. Aber was könnte wichtiger sein als das eigene Kind?
»Sie lieben Ihre Großmutter sehr, nicht wahr?«
Sam nickt. Romans Stimme bahnt sich einen Weg durch Erinnerungen. Sie und die Brüder in Blancas Obhut, ohne ihre Eltern. Sommernachmittage im Garten, unter dem erfrischenden Strahl eines Gartenschlauches. Im Winter bauten sie Schneemänner. Anschließend gab es in Blancas Küche Muffins mit Sahne drauf, die sie aus Sprühflaschen drückten und damit sich selbst und die ganze Küche verzierten.
»Sie müssen mit ihr reden.«
»Vielleicht war ich unfair, meine
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