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Wrack rauskommen, dann wird sie weitersehen. Sie ist durchnässt, ihr fällt auf, dass es immer noch wie aus Eimern schüttet.
Sie ist nicht mehr ganz jung, nicht mehr so gelenkig, aber sie schafft es, sich aus dem Schrotthaufen zu winden, weil sie schlank ist und ohne Weiteres durch die Öffnung passt.
Der andere Wagen steht direkt neben der Straße. Er muss ins Schleudern gekommen sein, hat sich jedoch nicht überschlagen. Der Fahrer hockt auf seinem Sitz, die Stirn an das Steuer gepresst.
»Hallo?« Victoria gestikuliert in seine Richtung. Wahrscheinlich ist er bewusstlos. Sie muss Hilfe holen. Wo ist ihr Handy? In der Handtasche, aber wo ist die Handtasche?
Victoria wirf einen Blick in das Chaos, das eben noch ein Auto auf vier Rädern war. Ihre Sachen können wer weiß wo hingerutscht sein. Hilfesuchend blickt sie zu dem anderen Wagen hinüber. Was ist eigentlich passiert? Der Kerl war plötzlich auf ihrer Fahrbahnseite. Raste wie ein Irrer über die Hügelkuppe.
Erneut schaut sie in das Autowrack. Da baumelt ihre Tasche. Sie hat sich mit dem Riemen an der Kopfstütze des Beifahrersitzes verfangen. Victoria greift durch die Fensteröffnung, nimmt die Tasche, schnappt sich das Handy.
Dabei fällt ihr ein, dass man, so man einen Unfall meldet, unbedingt die Anzahl der Verletzten durchgeben muss. Sie stakt durch den Acker zur Straße und klopft an das Fenster des anderen Wagens.
»Hallo?«
Der Fahrer hebt den Kopf. Es ist ein junger Typ, um die 20, dessen Brille krumm auf seiner Nase sitzt. Ein Glas ist herausgefallen.
»Hallo? Sind Sie verletzt?«, fragt Victoria.
Der Nerd starrt Victoria wortlos an.
Victoria wählt 110. Sie gibt klar und deutlich durch, was passiert ist. Nein, der andere Fahrer sei nicht sichtbar verletzt, ansprechbar, das ja. Wahrscheinlich stehe er unter einem schweren Schock. Sie selbst? Victoria sieht an sich herunter. Wenn sie sich umgezogen hat, wird sie sehen, was an ihr noch ganz ist. Sie wischt sich übers Gesicht. Ein paar Blutspritzer bleiben an ihrem Handrücken kleben. Ihre Pumps sind versaut, die Strümpfe zerrissen.
»Nein«, sagt sie fest. »Ich habe keine Verletzungen. Nur ein paar Kratzer.«
Sie legt auf.
Der Regen lässt nach. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie bis auf die Haut durchnässt ist. Was soll sie jetzt tun?
Die Fotos!
Panik rast durch Victorias Körper. Sie kann sich kaum mehr aufrecht halten. Ihr Atem geht keuchend.
Die vermaledeiten Fotos, denen sie diesen Scheißdreck hier zu verdanken hat!
Sie rennt zurück zum Wagen. Da ist nichts. Der Umschlag mit den Fotos ist weg.
Sie sucht das ganze Autowrack ab. Der Umschlag ist dick, sie muss ihn finden, er kann sich nicht unsichtbar gemacht haben! Wahrscheinlich ist er aus dem Wagen geschleudert worden. Sämtliche Fenster sind zertrümmert. Victoria schleppt sich über das Feld. Erdklumpen haften an ihren Pumps. Sie streift die Schuhe ab und geht in ihren zerrissenen Strümpfen weiter. Sie muss unbedingt diese Fotos finden, bevor die Polizei kommt. Sie geht mehrmals zwischen Straße und Wagen hin und her. Dabei sieht sie die Spuren, die ihr Auto bei dem missglückten Ausweichmanöver hinterlassen hat. Aber nicht den Umschlag. Es beginnt wieder heftiger zu regnen. Victoria weint wie ein Kind. Sie braucht diese Bilder, unbedingt, sie muss sie finden. Wenn ein anderer sie entdeckt und eins und eins zusammenzählt, ist sie verloren. Dann fliegt alles auf. Dann wird sie nie wieder die großartige Victoria May sein, der zu Ehren ihre Tochter eine Ausstellung vorbereitet, sondern nur noch eine miese, fantasielose, uninspirierte Betrügerin.
Der Umschlag mit den Fotos bleibt unauffindbar.
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Sam hat sich sämtliche Aufnahmen angesehen, die John Carrick auf der Tischplatte ausgebreitet hat. Ihr schwirrt der Kopf davon. Sie hat gehofft, Fotos von Grace zu sehen. John hat nur zwei mitgebracht. Grace an einer Staffelei stehend, während ein blauer Schal um ihren Hals im Wind flattert. Sie trägt Jeans und eine weiße Bluse und arbeitet konzentriert. Das zweite Foto: Grace unter einem Olivenbaum, in einem viel zu langen Wollpullover, wie sie in die Sonne blinzelt.
Alle anderen Fotos zeigen Malereien. Fertige und gerade begonnene Skizzen. Wie von selbst fangen Sams Hände an, diese Fotos in eine Reihenfolge zu bringen. Sie ist jetzt geübt durch die Ausstellungsvorbereitungen. Sam fügt Gemälde zu Gemälde. Auf diese Weise zeigt sich vor ihren Augen die Entstehung eines jeden Bildes.
»Das sind die Bilder
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