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begüterten Familie und war nie faul.«
Er sieht verletzt aus.
»Sind Sie nicht wütend auf Victoria?«, fragt Luna.
»Auf Victoria?« John schüttelt ungehalten den Kopf. »Lady, ich glaube, Sie haben alles falsch verstanden. Ich liebte Grace, nicht Victoria. Um ehrlich zu sein, ich erinnerte mich bis vor Kurzem kaum an Victoria.«
Sein Blick ruht eine Weile auf Sam.
»Sie sehen ihr unglaublich ähnlich. Grace, meine ich.«
Sam nickt. Ein dicker Klumpen sitzt in ihrer Kehle, sie möchte weinen, weiß gar nicht, warum. Aus Mitleid für diesen erschöpften Mann, der einmal todkrank war und nie die Liebe seines Lebens fand? Der jetzt spürt, dass es dafür zu spät ist und dennoch dankbar für die Tage ist, die ihm bleiben, wenngleich es einsame Tage sind? Ein Gigolo ist er nicht, denkt sie, obwohl ihre Mutter ihn so sehen will.
»Ist ja auch kein Wunder.« Er steht auf, greift nach seiner Brieftasche.
»Nein!« Sam legt die Hand auf seine. »Das Essen geht auf meine Rechnung.«
»Das kann ich nicht annehmen.«
»Doch, können Sie. Die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile bezahlen auch Frauen im Restaurant, ohne dass es ehrenrührig ist.«
John Carrick lacht amüsiert. »Das hätte Grace sagen können.«
Er verabschiedet sich von Roman per Handschlag, küsst Luna auf beide Wangen.
»Ich begleite Sie noch ein Stück«, sagt Sam.
Draußen auf der Gasse hakt sie sich bei John ein. Sie gehen zur Spitalgasse hinunter. In der Fußgängerzone ist niemand außer ihnen beiden unterwegs.
»Wissen Sie, dass Sie in etwa in dem Alter sind, in dem Grace war, als ich sie kennenlernte?«
»Ist Ihnen klar, dass ich nie etwas von Grace erfahren hätte, wenn ich nicht dieses Foto gefunden hätte? Wenn Roman es nicht ins Netz gestellt hätte?« Sam fühlt sich dem Amerikaner seltsam nahe.
»Sie haben einen sehr netten Freund.«
»Wir kennen uns erst ganz kurz.«
»Das macht ja nichts. Aber so steuern die Toten das Leben derjenigen, die noch durchhalten müssen, denken Sie nicht?«
»Sie meinen, dass Grace …«
»Nun ja, irgendwie schon.«
Sam denkt darüber nach. Dass ihre unbekannte Tante Grace aus dem Jenseits Sams Liebesleben steuert … Es kommt ihr auf dem nächtlichen Marktplatz, wo die geschickte Illumination den Zauber der umstehenden Gebäude hervorkitzelt, nicht abwegig vor. Sie biegen in die Judengasse ein.
»Wie war Grace?«
»Ein Wirbelwind. Nichtsdestotrotz sehr verletzlich. Sie konnte schräge Sprüche reißen, den Harlekin spielen, doch dann war sie wieder schüchtern und vorsichtig.« John räuspert sich. »Sie hatte eine ungute Beziehung hinter sich. Und der Vater … Pardon … nun … Sie kennen Ihren Großvater eigentlich nicht?«
»Nein, als er starb, war ich ein Kleinkind.«
»Er war extrem dominant und drückte Grace seine Vorstellungen auf. Wollte aus ihr eine Künstlerin nach Plan machen. Was natürlich nicht funktioniert. Die Kunst entwickelt sich nach Naturgesetzen, wenn Sie so wollen.«
»War sie schön?«
»Unendlich schön. Ich nannte sie meine Athene. Die Göttin der Weisheit und des Kampfes, weil sie so stark wirkte, so tapfer. Sie war entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Trotz … nun ja.« John schweigt eine Weile. Irgendwo schlägt eine Turmuhr. Ein Schwarm Krähen zieht über die Altstadt, Sam hört das Rauschen vieler Flügel. »Ihre Schönheit war keine aus einer Modezeitschrift. Sie entsprang ihrem Lebenswillen. Grace wollte eine Zukunft.«
Zukunft, denkt Sam, ein Wort, das heute bereits zum zweiten Mal auftaucht.
»Aber sie hatte keine Zukunft«, wendet sie ein. »Sie starb.«
Sie gehen durchs Stadttor und schreiten auf Johns Hotel zu. Die Gasse ist sehr dunkel. Die Straßenlampe über ihnen flackert. Sam fröstelt plötzlich.
John bleibt stehen. Er blickt in Sams Augen.
»Doch. Die hatte sie, wenngleich sie es damals nicht verstand. Obwohl … nun …« Er bricht ab.
Im Gebüsch hinter Sam raschelt es. Sie hat das ungute Gefühl, beobachtet zu werden.
»Sie hatte in der Tat eine Zukunft. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte«, fügt John nach einer Pause hinzu.
»Die Kunst allein macht nicht glücklich«, erwidert Sam. »Manche Künstler machen sich unsterblich, die allermeisten werden freilich vergessen.«
John bleibt stehen, löst seinen Arm aus Sams. Sie sehen einander an.
»Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Samantha.« John strafft die Schultern. Im fahlen Licht sieht er alt und verbraucht aus. »Wann immer Sie
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