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wieder nicht.«
Da ist etwas dran, vermutet Sam. Doch die Fäden all der vielen gangbaren Lösungen und Begründungen entgleiten ihr, es ist ihr unmöglich, stringent in eine Richtung zu denken. Sobald sie ein Argument aufgreift, treibt es weg.
Sie blickt auf den Kanal und die Palazzi auf der anderen Seite. Venedig ist ein Wunder und eine Illusion, prallvoll mit dem Leben der Touristen, die es überschwemmen, angefüllt mit Kunst, Malerei, Musik. Wäre ich ein kreativerer Mensch, wenn ich hier leben würde?, fragt Sam sich. Ihre Mutter hat alles getan, um Sams Talent zu fördern, ihr Interesse am Malen zu wecken und entwickeln zu helfen. Dennoch hat Sam – bei allem Respekt vor der Kunst – dieser Welt des sich immer weiter vervielfältigenden Schaffens nie so tiefe Bedeutung beigemessen.
Der Mann neben ihr steht auf, setzt sich den Hut auf den Kopf und nickt Sam und Roman zu.
»Good-bye«, sagt er mit starkem italienischen Akzent. Dann bleibt die Hand mit dem Hut in der Luft hängen. Er starrt Sam an.
»Good-bye, Sir«, antwortet sie höflich.
Sein Blick klebt an Sam, sie bekommt Gänsehaut. Behauptet man nicht immer, die Italiener seien Schwerenöter? Will er mit ihr anbandeln? Du lieber Himmel, der Mann ist mindestens 70, und sie hat Roman neben sich sitzen. Außerdem ist sie trotz Lunas eleganter Bluse nicht konkurrenzfähig gegenüber den so klassisch wie selbstsicher hergerichteten Italienerinnen.
Das Gesicht des Mannes ist von winzigen Fältchen durchzogen. Die Haut wirkt gelbstichig. Er lässt den Stetson sinken. Leckt sich über die Lippen. Will etwas sagen, blickt entschuldigend zu Roman, der noch gar nicht mitbekommen hat, dass etwas im Schwange ist, weil er auf den Kanal blickt. Sieht wieder Sam in die Augen. Doch ehe er ansetzen kann, etwas zu sagen, ruft ihn jemand.
»Signor Loredan!«
Mit Bedauern im Blick reißt er sich von Sam los und geht davon.
»Was war das jetzt?« Sam sieht ihm nach. Schlagartig ist ihr heiß in der Sonne.
»Was denn?«
»Der Mann – er hat mich angesehen, als würde er den Leibhaftigen persönlich angaffen.«
»Vielleicht steht er auf Germaninnen.«
»Quatsch.« Sam boxt Roman die Schulter.
Er grinst. »Sollen wir was essen gehen?«
»Beste Idee seit Langem. Mir knurrt der Magen.«
44
Seit Sam sich von ihr abgewandt hat, sind Victorias Wochenenden Trümmerfelder. Jahrelang hat sie den Brauch des gemeinsamen Essens und des Friedhofganges bewahrt, darauf bestanden, weil sie meinte, dass ihr genau das zustünde: die zur Tradition geronnene Zuwendung ihrer Kinder. Mit Igor allerdings verbindet Victoria etwas anderes; etwas, das kein ständiges Zusammensein benötigt, weil es ohnehin nicht zerbrechen kann. Mit ihm teilt Victoria die Erfahrung des Zurückgesetztseins.
Selbstmitleid, denkt sie, ich zerfalle in Selbstmitleid. Sie steht auf dem Rasen, den Robert heute Morgen frisch gemäht hat. Die kurzen Halme piken in ihre nackten Füße. Sie mag den frischen Duft nach Gras.
Diesen John Carrick hatte sie vergessen. Er war nicht mehr als der Schatten einer Erinnerung. Sie wusste nicht mehr, dass sie und Grace versucht hatten, ihn loszuwerden, indem sie das Treffen in Athen vorschlugen. Sie ist sich nicht einmal sicher, ob Grace nicht doch die Absicht hatte, die verabredete Taverne aufzusuchen. Das menschliche Gedächtnis ist im Grunde nichts als eine mittelprächtig funktionierende Autosuggestion, überlegt Victoria, während sie langsam über den Rasen geht, zurück ins Haus. In der Küche setzt sie Teewasser auf. Wir wollen uns einreden, dass alles, was in unserem Leben geschieht, miteinander zusammenhängt; doch letztlich ist alles im Universum Zufall, wir wollen bloß den Glauben an einen verborgenen Sinn nicht aufgeben.
Sie trinkt ihren Darjeeling in kleinen Schlucken. Die Verletzungen in ihrem Gesicht sind nicht tief, aber die Schnitte brennen und die Haut spannt. Die gehässigen, feinen Schmerzen machen sie nervös. Gewiss auch die tieferen Wunden, der kaum verwundene Schock, der Unfall, der sich mehrfach überschlagende Wagen, die Fotos. Sie ist zum Ort des Geschehens gefahren, mit dem Leihwagen, den sie sich einen Tag nach dem Unfall zulegte. Sie hat nichts gefunden. Nur tiefe Furchen im Acker. Sonst nichts.
Victoria greift nach dem Telefon. Es ist doch gut, dass Robert nicht da ist. Denn jetzt hat sie etwas vor, etwas, das sie gegebenenfalls noch weiter an den Rand des Wahnsinns bringt, etwas, womit sie sich selbst verletzen wird, schlimmer als auf
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