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zusteht, und die sich deshalb lieber für ein bescheideneres entscheidet. Das passt nicht zur Familie May. Weder zu Victoria noch zu Grace. Beide Schwestern, die auf dem alten Foto so harmonisch posieren, wollten immer das Beste, das Größte, das, was den meisten Ruhm versprach. Begreiflich, dass sie einander im Weg waren. Und wenn es nur um die Kunst gegangen wäre … aber ein Mann!
Victoria vermisst Robert, weil sie es vermisst, dass jemand sich im Haus regt und die Last der inneren Einsamkeit mildert. Robert weiß nicht, was wirklich passiert ist an jenem Tag auf der Klippe. Ihr Mann steht auf ihrer Seite.
Das ist das Mindeste.
Wenigstens eines, dessen Victoria sich sicher sein kann. Und wenn er nicht da ist, nutzt sie das aus. Sie geht das Telefonbuch holen und macht sich daran, die Coburger Hotels abzuklappern.
45
Sam sitzt auf einer Bank an der Riva degli Schiavoni. Die Sonne geht unter, die Salutekirche steht schwarz wie ein Schattenriss im orangen Abendlicht. Das Wasser nimmt opake, satte Farben an. In den Vaporetti ist die Beleuchtung angeschaltet. Die Boote sind nicht mehr überfüllt, und die Touristenpulks haben sich verflüchtigt. Allein die allgegenwärtigen Verkäufer von idiotischem Krimskrams wie funkelnden Gummibällen oder kichernden, kreischbunten Püppchen haben vor der mageren Ausbeute noch nicht kapituliert.
Roman ist in Richtung Arsenale unterwegs, er will ein paar Fotos schießen.
Sanft schwappt das Wasser gegen die Uferbefestigung. Die Gondeln, zu mehreren zusammengezurrt, tanzen auf dem Wasser. Von den Cafés am Markusplatz tönen Musikfetzen herüber. Geigen, Saxofone, Pianos. Nichts bleibt unbemüht, um den vergleichsweise wenigen Besuchern, die in Venedig übernachten, das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Hinter Sam liegen der Dogenpalast und die teuersten Hotels der Stadt. Sie schließt einen Moment die Augen, lauscht den ungewohnten Klängen, den Wellen des Wassers, dem leisen Klacken, wenn die vertäuten Gondeln aneinanderstoßen, den nahen und fernen Stimmen von Menschen. Aus heiterem Himmel hat sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie hatte es schon letzte Nacht, in Romans Wagen, vor Blancas Haus. Schob es auf die Aufregung um Johns seltsame Bemerkungen, das ganze Chaos, das mit dem Foto begonnen hat. Doch hier, in der gedämpften abendlichen Betriebsamkeit Venedigs, ist das Gefühl noch deutlicher.
Sam öffnet die Augen. Zwei Gondolieri machen sich an ihren Gondeln zu schaffen. Eine Frau hakt sich bei einem Mann unter und deutet auf die Insel San Giorgio, die jenseits des mittlerweile dunkelvioletten Kanals im Abendlicht aufleuchtet. Langsam dreht Sam sich um. Im Café gegenüber des Dogenpalastes sitzen nur wenige Paare. Der Saxofonist müht sich redlich, Stimmung aufkommen zu lassen. Ein Mann hockt allein und liest in einem Buch.
In den Rundbögen des Dogenpalastes nisten Schatten. Über die Brücke, die den nächsten kleinen Kanal überspannt, rennen ein paar Jugendliche, rufen einander offenkundig witzige Dinge zu und brechen in wildes Gelächter aus.
Sam atmet tief durch. An jedem Eck, in jedem Café oder hinter jedem Fenster könnte jemand sein, dessen kühler, taxierender Blick sie beunruhigt. Ihr Herz klopft schneller. An der Vaporetto-Anlegestelle studieren zwei Frauen die Abfahrtszeiten. Ein junger Typ mit wirrem Bart liest die Gazzetta dello Sport.
Warum sollte mich jemand beobachten?, versucht Sam sich zu beruhigen.
Schlagartig wird ihr klar, dass nichts anderes wahrscheinlich ist. Wer auch immer ihr die Karte mit der Frage Kennen Sie die Bilder von Eleni Tsiadis? unter der Wohnungstür durchschob, hatte die Absicht, sie nach Venedig zu locken, sie dazu zu bringen, die Ausstellung im Peggy-Guggenheim-Museum anzusehen. Es war nichts anderes zu erwarten, als dass sie sofort im Internet nach Eleni Tsiadis suchen und damit auf die aktuelle Ausstellung stoßen würde.
Warum?, zermartert Sam sich den Kopf. Was habe ich mit Eleni Tsiadis zu tun? Unversehens vermisst sie Roman, seine unerschütterliche Anwesenheit, die Sicherheit, die sie spürt, wenn sie ihn neben sich weiß.
Schätzungsweise geht es gar nicht um Grace und das Geheimnis, versucht sie sich zu besänftigen. Eine Menge Leute aus der Kunstbranche wissen, dass ich Mutters Ausstellung vorbereite. Wollte ihr jemand eine Anregung geben?
Die Nervosität lässt sich nicht unterdrücken. Sam steht auf und schlendert betont lässig am Wasser entlang. Sie rechnet nicht mit einem Angriff. Sie spürt, dass
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