B00DJ0I366 EBOK
der B 22. Kann sein, dass sie dem Untergang geweiht ist. Ohne die Kunst kann sie nicht leben, und wenn es so ist, dass Menschen für das, wofür sie existieren, töten, dann … Victoria denkt den Satz nicht zu Ende. So vieles treibt sie um, seit Sam mit dem Foto kam, seit Blanca den Schlaganfall erlitt, seit sie den Unfall hatte. Seitdem. Seit jenem Tag auf den Klippen. Sie schließt die Augen, das Telefon rutscht ihr aus der Hand und schlägt auf die Tischplatte. Sie bemerkt es nicht, in ihrem Kopf hört sie nur den Wind, der über zerklüftete Felsen und trockene, warme Erde fegt, hört die Zweige eines Feigenbaumes rascheln.
Warum musste Grace ihr das antun? Dieses abgekartete Spiel zwischen Schwestern spielen? Grace, die dunkle, die schöne gegen Victoria, die fahle, die hässliche? Du bist nicht hässlich, hat Blanca ihrer jüngeren Tochter oft gesagt, wenn sie sich bei ihr ausweinte. Wenn sie einen Pulli oder einen Rock aus Grace’ Schrank heimlich anprobiert hatte, aber Grace dahinterkam und ein irrsinniges Gezeter vom Stapel ließ. Grace, die schon als Jugendliche Geld hatte, weil sie ab und zu Malstunden für Kinder gab und sich was dazuverdiente, indem sie Glückwunschkarten für den kleinen Papierwarenladen in der Ketschengasse zeichnete. Alles Jobs vermittelt von Isaac, dem stolzen Vater.
Victoria sieht zum ersten Mal, in welcher Zwickmühle ihre Mutter steckte. Sie fragt sich, ob Mütter diese ewigen Konflikte zwischen Durchsetzungswillen und Gutmütigkeit an ihre Töchter vererben und ob so der Zank durch die Generationen driftet, wie eine Naturgewalt, der niemand Einhalt bieten kann.
Blanca hätte Isaac deutlicher sagen sollen, was sie sah: eine geliebte und eine ungeliebte Tochter, einen Schwan und ein hässliches Entlein. Victoria ist sogar überzeugt, dass Blanca vielmals mit Isaac geredet hat, aber dass sie nicht durchkam, nicht gegen einen so dominanten Mann. Isaac hatte etwas von einem Kauz. Es gab eine Menge Dinge, die er nicht ertrug. Hitze, Luftzug, einen unordentlichen Garten, ein zugeparktes Gartentor. Mein Vater war ein schwieriger Mensch, denkt Victoria ohne Groll. Es ist lang her. Blanca hat ohne ihn sicher ein besseres, unkomplizierteres Leben, und sie hat sich als Witwe gut eingerichtet. Robert ist immer für sie da, für die typischen Männersachen, Apfelbaum ausästen, Handwerker instruieren, den Wagen zur Inspektion fahren, und Robert tut alles für Blanca, er hängt an seiner Schwiegermutter, er mag sie.
Kurz bleibt Victorias Aufmerksamkeit bei ihrem Mann hängen. Selbst am Samstag treibt es ihn in letzter Zeit in die Firma. Dabei ist das Schlimmste doch ausgestanden! Irgendwie versteht sie ihn. Das Haus strahlt am Wochenende schlechte Laune aus, seit Sam sich abgesetzt hat und Nikolaj zugibt, dass er lieber mit Trixi alleine den Samstag verbringt. Wenigstens will er morgen mit auf den Friedhof kommen. Vielleicht mit Trixi.
Sie haben ja recht, denkt Victoria. Liest man nicht allenthalben, dass erwachsene Kinder ihre eigenen Wege beschreiten müssen, um ihre Erfahrungen zu machen?
Victoria hat immer alles getan, was der Familie half. Was erwartet wurde. Dafür hat sie im Umkehrschluss beansprucht, gedeckt zu werden. Nicht fallengelassen zu werden. Bis ihr Vater in seinem grenzenlosen Egoismus diese ungeschriebene Übereinkunft aufkündigte.
Sie hätte es sich denken können. Mit seiner Loyalität konnte Victoria nicht rechnen. Umgekehrt wäre es anders gewesen. Wenn Grace aus Griechenland zurückgekehrt wäre und sie, Victoria, nicht – Isaac hätte die Sache unter den Teppich gekehrt und dafür gesorgt, dass die alte Geschichte nie mehr gelüftet würde. Es hätte keine Lügen gegeben. Und Sam …
Victoria nimmt das Telefon wieder in die Hand. Sie vermisst Robert, die Tage dehnen sich endlos vor ihr aus, und sie kann nicht malen, nichts planen, nicht experimentieren, seitdem Sam ihr das verräterische Foto gezeigt hat. Sie hat es nicht böse gemeint, denkt Victoria, und ich hätte die Chance nutzen und ihr alles erzählen sollen. Auf diese Weise hätte ich es in der Hand gehabt, die Geschichte zu lenken. Weil ich unwirsch reagiert habe, hat sie erst recht Verdacht geschöpft.
Victoria muss zugeben, dass sie an Sams Stelle nicht anders gehandelt hätte. Also hat Sam doch etwas von mir, überlegt sie und lächelt dabei. Sam, die sich mit allem so schwertut, die kämpfen muss, um dahin zu kommen, wo sie hinwill. Sam, die oft glaubt, dass das höchste Ziel ihr nicht
Weitere Kostenlose Bücher