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sie beide seit heute Morgen wenig geredet. Es kommt Sam vor, als wäre sie auf der Flucht, und dieses Gefühl löst eine unbestimmte Angst in ihr aus. Als könnte ich nie wieder zurück, denkt sie. Als hätte man mich vertrieben und alle Rückwege abgeschnitten.
Sie lösen zwei Eintrittskarten.
Die Bilder sind nach Farben angeordnet. Zum ersten Mal erwacht in Sam echtes Interesse. Das ist ein ganz anderer Zugang als der, den sie für Victorias Ausstellung gewählt hat. Er drängt sich geradezu auf. Eleni Tsiadis malt unikoloristisch, wie im Flyer angemerkt ist. Jedes Bild basiert auf einem einzigen Farbton, der durch die Art, wie die Acrylfarbe aufgetragen ist, variiert. Mal mit viel durchscheinendem Leinwandweiß, dann mit einem Klecks Komplementärfarbe. Weil die Farbe mit großen, einmaligen und kaum nacharbeitenden Bewegungen aufgetragen wurde, erscheinen die Bilder bewegt. Jetzt geht Sam auf, woher sie den Eindruck hatte, in die Tiefe gesogen zu werden: Meist verteilt Eleni Tsiadis die Farbe mit einer Schneckenbewegung auf das Zentrum des Bildes zu.
»Düster«, stellt Roman fest, als sie von Purpur zu Blau und letztlich zu Schwarz wechseln.
Sam nickt. Die Bilder vermitteln Sehnsucht nach dem Tod, aber sie sind mehr als das. Sie sind mehr als finstere Aufschreie aus einem Ort jenseits der bekannten Welt. Sam fühlt einen versteckten Triumph in ihnen aufscheinen. Sie schluckt die Tränen hinunter. Es ist, als wolle ihr die Künstlerin suggerieren: Es gibt Hoffnung. Greif zu und brich dir dein Stück davon ab!
Die Ausstellung ist gut besucht. Viele Menschen drängen sich vor einzelnen Bildern, diskutieren, gestikulieren, nicken, widersprechen einander. Sie hört Englisch, Italienisch, Deutsch, Französisch, Russisch.
»Victoria kann von einem solchen Publikum nur träumen«, sagt sie wie zu sich selbst.
»Venedig und Coburg – das sind zwei unterschiedliche Konzepte«, erwidert Roman schulterzuckend.
»Willst du mich trösten?«
Er grinst. »Kongresshaus am Rosengarten und Peggy-Guggenheim-Stiftung – die spielen beide in verschiedenen Ligen.«
»Warum wollte jemand, dass ich die Bilder sehe?«, fragt Sam, nachdem sie zweimal durch die Räume gestreift sind. »Und wer wollte das?« Sie treten auf die Terrasse hinaus, die direkt am Canal Grande liegt. Gondeln schaukeln in den von Frachtkähnen aufgeworfenen Wellen, überfüllte Vaporetti stampfen auf Anlegestellen zu. Auf dem schmutzigen Wasser glitzern blendende Sonnenflecken. Ein älterer Herr in einem hellen Anzug mit einem Stetson auf den Knien rutscht ein Stück an den Rand einer Bank, damit sie sich setzen können. Sie sieht die stilisierte Handschrift auf der Karte vor sich: Kennen Sie die Bilder von Eleni Tsiadis?
»Ich habe meine Beziehungen im Journalistenverband spielen lassen und Karten für die Finissage morgen bekommen. Die Künstlerin selbst ist auch anwesend«, sagt Roman.
Sam schluckt. »Ich weiß nicht …«
»Die Malerei spricht für sich, aber der Mensch ist mehr als sein Werk. Ich finde, du solltest sie treffen, mit ihr reden.«
»Du meinst, der Absender dieser ominösen Karte bezog sich, als er ›Kennen Sie Eleni Tsiadis?‹ schrieb, auf die Künstlerin selbst? Auf die Person?«
»Schwer zu sagen. Womöglich ist Eleni Tsiadis ein Schlüssel zum Verständnis der vielen Geheimnisse in deiner Familie.«
»Ich wüsste nicht, wie das vor sich gehen sollte.«
»Das haben Geheimnisse so an sich. Sie geben sich meistens ziemlich hermetisch, bis man sie gelüftet hat.«
Sam versteht gar nicht mehr, warum sie den Mann neben sich den ›ratlosen Roman‹ genannt hatte. Er handhabt die ganze Situation, als habe er monatelang dafür trainiert.
»Eigentlich gibt es kein Geheimnis.«
»Doch! Es lautet: Warum hat deine Familie Grace verschwiegen?«
»Weil meine Mutter ihre Bilder für sich vereinnahmt hat. Sie hat ihre Chance gesehen. Ich dachte, darüber wären wir uns einig.«
»Ich glaube nicht. Ich glaube, das wäre zu simpel. Es hätte sie doch nicht viel Selbstüberwindung gekostet, Grace beim Namen zu nennen und kundzutun, dass sie sich wünscht, ihre Schwester würde in ihrem, also Victorias, Werk weiterleben. Unsere Gesellschaft liebt solche emotionalen Fußnoten.«
Sam kann das nicht nachvollziehen. Sie schweigt.
»Deine Großmutter hätte sich nie darauf eingelassen, Grace in der Erinnerung der Familie sterben zu lassen, wenn es nur um Gemälde gegangen wäre! Kunst ist etwas Grandioses, aber so wichtig ist sie auch
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