B00DJ0I366 EBOK
Dieser John Carrick weiß zu viel. Er ist gefährlich.
49
Sam schwitzt, ihr Kopf schmerzt. Roman schwatzt mit Michele Farin, beide beugen sich über einen Packen mit zerfledderten Ausdrucken, deuten hierhin und dorthin. Der Alte mit dem Stetson starrt sie fortwährend an, lächelnd, selbstzufrieden. Er kommt ihr vor wie einer, der lange auf Beutezug war, um endlich das Tier zu erlegen, das nicht mehr länger vor ihm fliehen kann.
Endlich löst sich der Alte aus Sams Blick. Er nimmt einen anderen Mann beiseite, einen blonden Typen in einem karierten Hemd, und spricht leise auf ihn ein. Die Augen des anderen ruhen kurz auf Sam, dann auf dem Alten.
Sam sieht sich um. Eleni Tsiadis antwortet geduldig auf Pressefragen. Sie tut es galant, freudig, ihre roten Lippen verziehen sich zu einem Lachen nach dem anderen, weiße, ebenmäßige Zähne blitzen auf. Sie stützt sich mit all ihrem Gewicht auf den Stock, aber man merkt ihr keine Mühe an.
Sam geht auf die Suche nach einer Toilette. Sie ist aufgewühlt. Das beängstigende Gefühl, dass eine Eskalation unmittelbar bevorsteht, lässt sie schaudern. Die glückliche Heiterkeit, die sie vorhin neben Roman auf dem Vaporetto genossen hat, ist wie weggeblasen.
Mit weichen Knien betritt sie den Waschraum. Sie stützt die Arme auf das Waschbecken, sieht in ihr blasses Gesicht. Vernachlässigt sie sich und ihr Aussehen? Die Haarsträhnen, die sie mit den Spangen notdürftig aus dem Gesicht hält, sind verschwitzt. Das Kleid, mit solcher Mühe entworfen und genäht, erscheint ihr altbacken. Eleni Tsiadis’ theatralisches Outfit kommt ihr in den Sinn. So zielsicher wie Luna hat die Künstlerin ihre Kleidung gewählt und lebt darin wie in einer zweiten Haut. Sam kann das nicht, obwohl sie als Designerin arbeitet, und dieser Widerspruch irritiert sie, immer schon. Als sie mit dem Studium begann, glaubte sie, ihre Unsicherheit im Umgang mit ihrem Äußeren würde vergehen, je professioneller sie sich mit Modefragen auskennte. Es war ein Irrtum, denkt Sam, und es wurmt sie.
Sam lässt kaltes Wasser über ihre Arme laufen. Roman hat für den Boulevard gearbeitet … das geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Längst hätte sie ihn nach seinem Beruf fragen können. Sie hatte die ganze lange Reise nach Venedig Zeit, war aber vollkommen absorbiert von ihren eigenen Problemen. Was tut sie hier eigentlich? Wieder kommt ihr die seltsame Einladungskarte in den Sinn. Wer hat sie unter ihrer Wohnungstür durchgeschoben? Wer ist der alte Mann, dessen Blick sie jetzt noch verfolgt, obwohl sie längst außer Sichtweite ist?
Roman und der Boulevard. Deswegen kennt er so viele Leute. Sogar hier, in Venedig, bewegt er sich auf vertrautem Terrain. Scheint richtig in seiner Aufgabe aufzugehen, Sams Geschichte um Grace zu lüften.
Roman will eine Story. Eine, die ihn ins Geschäft zurückbringt. Die ihm Anschluss verschafft im Journalistengewerbe. Deshalb hat er sich bei Michele Farin festgequatscht. Hat Sam wahrscheinlich schon vergessen.
Ihr Handy klingelt. Sie will nicht drangehen. Sie kann später zurückrufen. Im Moment ist sie zu durcheinander.
Das Mobiltelefon piept zweimal, jemand hat eine Nachricht aufgesprochen. Ärgerlich sucht Sam nach dem Handy, als sie Stimmen hört, die sich dem Waschraum nähern. Ohne nachzudenken weicht sie in eine Toilettenkabine aus, schließt die Tür und lässt sich auf den geschlossenen Deckel sinken.
Zwei Frauen kommen herein. Sam hört das satte Klacken eines Gehstocks auf den Kacheln.
»Wie sieht es jetzt aus mit Hamburg?«, fragt eine rauchige Stimme auf Deutsch.
»Frag mich in einer Woche noch mal!«, antwortet eine andere Stimme, die sich ein wenig außer Atem anhört, die Sam trotzdem genau identifizieren kann. Eleni Tsiadis! Und sie antwortet ebenfalls auf Deutsch!
»Eleni! Ich brauche wirklich eine Entscheidung von dir.«
»Loredan sitzt mir im Nacken. Er kommt mir so besonders hinterhältig vor. Und seinen Schoßhund Rosen, diesen Schmierfinken von ›Artes‹, treffe ich auf Schritt und Tritt.«
»Den blonden Journalisten?«
»Eben den!«
»Du siehst Gespenster!«
»Loredan ist ein Manipulator, Hanna! Ich muss vorsichtig sein.«
»Das wusstest du im Vorhinein, Eleni. Letzten Endes ist jeder in der Branche ein halber Psychopath. Muss man sein, um zu überleben.«
»Da sagst du etwas Wahres! Dummerweise brauche ich den Mann. Ich werde mich über kurz oder lang in Italien niederlassen, mit Atelier und allem Pipapo.«
Sam rinnt der Schweiß
Weitere Kostenlose Bücher