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Schultern, ein klein wenig unordentlich und gerade deshalb äußerst dekorativ. Ihre rechte Hand stützt sich auf den Stock, die Adern an Hand und Arm treten deutlich hervor. Sie trägt einen schwarzen Strohhut mit gewellter Krempe, sehr breit, raumgreifend. Nur der Schatten einer feinen Nase ist zu sehen und rot geschminkte Lippen, im selben Ton wie der Schal. Die Kirschlippen verziehen sich zu einem strahlenden Lächeln. Weiße Zähne präsentieren sich den Fotografen, die ihre Objektive auf Eleni Tsiadis richten und abdrücken. Sam kommt es vor, als würden Tausende von Auslösern gleichzeitig klicken.
»Komm!« Roman nimmt ihre Hand und zieht sie mit sich, direkt in das Chaos hinein.
»Madame Tsiadis!«, ruft ein französischer Journalist. »Aimez-vous Venice?«
Elenis Lächeln wird noch breiter.
»Mais oui«, sagt sie. »Selbstverständlich.«
Sie gibt antwortet auf die Fragen der Pressemeute so lässig, als täte sie täglich nichts anderes.
»Wow«, sagt Roman. »Das ist sie also. Was für eine Erscheinung!«
Sam ist erleichtert, dass sie die Reporter los ist. Irgendetwas muss ein Missverständnis gewesen sein, an diese Überzeugung klammert sie sich. Trotzdem ist ihr klar, dass es sich um wenig mehr als eine Schonfrist handelt. Was auch immer das Interesse an ihr ausgelöst hat, es wird sich erneut materialisieren und über sie hereinbrechen, es ist nur eine Frage der Zeit.
Falls sie oder Roman geglaubt haben, mit Eleni Tsiadis ein paar Worte sprechen zu können, so müssen sie spätestens jetzt einsehen, dass es dazu nicht kommen wird. Die Presse ist überall, und in deren Fußspuren lauern die Honoratioren Venedigs, der Hofstaat der Kunstszene, Gefolgschaften unterschiedlicher Couleur. Roman schiebt Sam näher an Eleni Tsiadis heran. Sie gibt ein Interview in einer Sprache, die Sam nicht versteht und nicht identifizieren kann.
»Griechisch«, flüstert Roman in Sams Ohr. »Die Heimat ist stolz auf sie.«
Fasziniert starrt Sam Eleni Tsiadis an. Sie bewundert ihr Temperament, das sie sogar körperlich lebt, trotz ihrer Behinderung. Die freie linke Hand saust durch die Luft, während ihre Stimme lauter wird und leiser, einen fröhlichen Tanz hinlegt, als wäre es das höchste Vergnügen der Welt, umlagert von Fotografen und Kamerateams Interviews zu geben.
»Madam?« Der Mann mit dem Stetson und der auffälligen Krawattennadel steht hinter ihr.
Sam erstarrt, als habe sie eine Ladung Eiswasser über den Körper geschüttet bekommen. Sie weiß, sie ist gemeint, obwohl der große Raum vor Menschen schier überquillt. Sie dreht sich um, in Zeitlupe.
»Sir?«
Das von vielen kleinen, zarten Fältchen durchzogene Gesicht sieht nicht mehr alt und zaudernd aus, so wie vorhin, als er mit dem Fotografen sprach. Da ist kein Charme zu sehen und kein Zauber. Sie fröstelt unter seinem Blick.
»Sie sind sicherlich eine Verwandte von Mrs. Tsiadis?«
»Sorry, Sir, da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe bis vor zwei Tagen noch nie von Eleni Tsiadis gehört.«
Er verzieht den Mund zu einem kalten Lächeln. »Nun, dann entschuldigen Sie bitte. Es muss sich wohl um eine Verwechslung handeln.«
48
Victoria hat nicht lange gebraucht, um herauszufinden, in welchem Hotel John Carrick abgestiegen ist. Er residiert in der Innenstadt, in der Goldenen Traube. Sie hat sich eine Nacht Zeit gelassen, um eine Entscheidung zu treffen, ruft ihn nicht an, sondern lässt sich am Sonntagvormittag vom Taxi direkt hinbringen.
Es hat über Nacht geregnet. Die Straßen sind nass, trotzdem verspricht der Tag warm zu werden. Glasige Wolken schwimmen über den Himmel.
Victorias aprikosenfarbenes Kostüm sitzt tadellos. Die Schnitte in ihrem Gesicht hat sie mit teurer Grundierung behutsam abgedeckt. Es lohnt sich, denkt sie, Geld für anständige Kosmetik auszugeben. Während der Fahrt liegen ihre Hände auf der Handtasche. Auf die Bemühungen des Fahrers, Konversation zu betreiben, reagiert sie einsilbig.
Sie nennt dem Portier ihren Namen. Es gibt keinen Grund, irgendein Spiel zu spielen.
Carrick ist in seinem Zimmer. Der Portier ruft ihn an, er kommt sofort herunter.
»Victoria!«, ruft er leise. Er lächelt, überrascht, nervös.
»Hallo, John.« Victoria, die die englische Sprache nie der deutschen vorzog wie ihre Schwester, verwünscht ihre Stimme, die zittert und zu hoch ist.
»Wie geht es Ihnen, Victoria?«
»Es geht.« Victoria hasst Geplänkel. »Möchten Sie einen Spaziergang mit mir machen?«
»Und Ihre Heimat
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