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eine Reisegruppe herum. Erklärungen fliegen mit dem Wind über den Platz, brechen sich an den Mauern der Ehrenburg, einer mikroskopischen Ausgabe des Buckingham Palace. Die Wolken ziehen in erstaunlichem Tempo ab, blau glänzt der Himmel über dem verträumten Ensemble aus Schloss und Theater.
»Sie haben der Eifersucht viel Raum in Ihrem Leben gegeben«, sagt John endlich.
»Ich habe keinen Grund, eifersüchtig zu sein!«, blafft Victoria zurück. Und wenn, fügt sie für sich hinzu, geht dich das nichts an.
»Grace hat sehr an der Dominanz ihres Vaters gelitten.«
»Verdammt, blasen Sie jetzt in dieses Horn?« Victoria ist diese Sichtweise nicht neu. Blanca hat ein paarmal etwas Ähnliches erwähnt. Victoria will es nicht hören. Es ist zu simpel. Diejenige, die immer bevorzugt wurde, die besseren Karten hatte, der alles eingetütet wurde, ohne dass sie dafür kämpfen musste – ist es nicht schlimmster Sarkasmus, für diese Person Mitleid zu fordern, weil sie es angeblich so schwer hatte?
»Hätte ihr Vater die Bilder, die in Griechenland entstanden, für gut befunden?«
»Ich habe keine Ahnung.« Natürlich hätte Isaac diese Bilder verabscheut, was für eine Frage, denkt sie.
»Victoria, die Fotos sprechen eine klare Sprache. Ich habe Grace’ Schöpfungen dokumentiert, obwohl ich nicht die Absicht hatte, Ihnen eine Falle zu stellen.«
Sie nähern sich den Arkaden. Victoria atmet schwer, sie bekommt kaum Luft. John hat es tatsächlich in der Hand, wie Sam gesagt hat!
Der frische Wind tut ihr gut, aber sie weiß nicht, warum ihr das Gehen so schwer fällt. Wie gut sie sich erinnert! Der steinige, sonnendurchleuchtete Peloponnes! Jäh sind die Vorhänge des Vergessens beiseite gewischt. Sie sieht die beiden Turteltauben wieder vor sich: Grace und John, die hoch über dem Meer im Gras sitzen und diskutieren, währenddessen Halme ausreißen und einander anschmachten. Wie sie, Victoria, sich zurückgesetzt fühlte! Wie sie nach Telefonzellen suchte, um Robert anzurufen, der meist keine Zeit für sie hatte, weil er in der Firma bis über beide Ohren im Schlamassel steckte. Wie sie einmal bei ihren Eltern anrief und schnell auflegte, als ihr Vater sich meldete.
»Unser Vater war eisenhart«, sagt sie leise, während sie Stufe für Stufe nimmt.
»Er muss ein sehr strapaziöser Mensch gewesen sein. Eigenartig, dass weder Sie noch Ihre Schwester sich je abgenabelt haben.«
»Abgenabelt?« Victoria fährt herum. »Abgenabelt? Du liebe Zeit, in welchen Psychologiebüchern haben Sie denn beim Zahnarzt im Wartezimmer geschmökert? Mein Vater besaß eine soldatische Strenge. Wir hätten ins Ausland gehen müssen, am besten nach Botswana oder Indochina, um ihm zu entkommen!«
»Warum haben Sie es nicht getan?« John ist hartnäckig.
»Weil wir kein Geld hatten. Weil ich einen Mann hatte, der beruflich auf der letzten Rille pfiff und den ich nicht allein lassen konnte, und weil da ein kleines Baby war …«
»Victoria!« John legt sanft seine Hand auf ihre Schulter. »Ich klage Sie nicht an. Ich möchte Ihnen einfach sagen, worüber ich in den letzten Tagen pausenlos nachdachte: Es hätte letztlich andere Lösungen gegeben. Für Sie und für Grace.«
Er ist enorm geschickt, denkt Victoria. Er treibt mich in die Ecke, in der er mich haben will. Er gibt sich als Philanthrop, als Allesversteher. In Wirklichkeit ist er ein Jäger, der sich zu viel zusammengereimt hat.
»Eltern, die ihre erwachsenen Kinder unterdrücken, sind nicht selten. Und ebenso wenig sind die erwachsenen Kinder selten, die sich das gefallen lassen. Denken Sie an Samantha.«
»Niemand unterdrückt Sam!« Victoria schwillt der Kamm.
»Muster haben Macht! Sie drücken sich durch! Wie durch Papier. Von Generation zu Generation.«
Victoria hat die oberste Stufe der Freitreppe erreicht. Wenn sie sich umwendete und den Blick über den Schlossplatz schweifen ließe, würde sie wie stets eingenommen sein von seiner Ästhetik und Leichtigkeit, dem freiheitlichen Glanz, der von ihm ausgeht. In der Mitte das Rondell mit dem Standbild von Herzog Ernst I., umgeben von einem violetten und gelben Blütenmeer. Einander gegenüber die Juwelen des Platzes, die Ehrenburg, das Landestheater. Das bescheidener anmutende Palais Edinburgh. An der oberen Längsseite die Grafengasse mit ihren herrlichen Fachwerkhäusern, halb verdeckt von den dicht belaubten Bäumen. Heute jedoch kann die Schönheit der Architektur Victoria nicht berauschen. Nicht einmal ablenken.
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