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passiert?«, wiederholt Sam schließlich. »Ich bin zu Tode erschrocken, als ich deine Nachricht abhörte.
»Ich hatte Angst, du würdest dich nicht melden«, wimmert Victoria.
»Deine Mutter«, beginnt Robert, »hat sich heute mit John Carrick getroffen. Ich ahnte nichts! Deine Großmutter musste mir erklären, wer er ist und was er in Coburg wollte.«
»Du bist ja nie zu Hause«, legt Victoria los. Ihre Stimme schneidet durch die Luft. »Interessiert dich eigentlich, was in dieser Familie los ist, oder hat die Firma endgültig den Platz an deiner Seite eingenommen?«
Robert wird flammend rot. Er wirft Sam einen verstohlenen Blick zu, den sie ungerührt erwidert.
»Lass, Victoria«, beschwichtigt Blanca. »Nicht jetzt. Folgendes, Sam: Victoria und John machten einen Spaziergang durch die Stadt, kamen zum Schlossplatz, stiegen die Stufen hinauf in den Hofgarten, und aus heiterem Himmel …«
Victoria schluchzt auf und birgt ihr Gesicht in ihren Händen. Der Anblick tut Sam weh. Sie möchte aufstehen, sich neben Victoria setzen und den Arm um ihre Schultern legen. Eine solche innere Einsamkeit, wie Victoria sie durchlebt, wünscht sie niemandem. Nicht einmal ihrer Mutter.
»Ja, und dann stürzte John Carrick die Stufen hinunter. Und starb«, beendet Blanca die kurze Berichterstattung.
Grace, über eine Klippe gestürzt. Isaac, von einem Stuhl gestürzt. John Carrick, die Arkadentreppen am Schlossplatz hinabgestürzt. In Victorias Leben scheint die Schwerkraft eine besondere Rolle zu spielen, denkt Sam.
»Ich habe nichts getan!«, verteidigt Victoria sich panisch. »Ich habe ihn nicht angerührt. Die Polizei …« Sie bricht in haltloses Schluchzen aus.
Blanca nimmt ihre Tochter in den Arm.
»Die Polizei kam, zwei Beamte waren hier bei uns, eine riesige Aufregung. Der Schlossplatz wurde gesperrt, frag nicht, was da los war, Sam!« Robert schüttelt den Kopf.
»Die Staatsanwaltschaft hat eine Obduktion angeordnet«, ergänzt Blanca.
»Steht Mutter denn unter irgendeinem Verdacht?«, fragt Sam.
»Natürlich nicht.« Robert klopft entschieden auf den Tisch. »Im Gegenteil, es gibt sogar Zeugen, zwei Mädchen, die gesehen haben, wie Victoria drei Schritte voraus war und John Carrick plötzlich hinschlug. Victoria hat ihn nicht angefasst.«
Sam glaubt das. Sie muss es glauben, andernfalls bricht ihr Leben in Stücke. In viel kleinere als die, die sich schon um sie herum angesammelt haben. Warum sollte ihre Mutter John Carrick umbringen wollen? Hat er Victoria vor ein Ultimatum gestellt? Etwas von ihr verlangt, was in ihren Augen unmöglich war? Was sollte das sein? Worin ist ihre Mutter noch verstrickt, außer dass sie ihre Schwester auf mysteriöse Weise verloren hat und ihre eigene Karriere auf deren Vorarbeiten aufbaute?
»Wieso stürzt jemand einfach so eine Treppe hinunter?«, fragt Sam perplex.
»Du hast dich mit ihm getroffen. Behauptet deine Mutter.« Robert mustert Sam aufmerksam. »Ist dir da was aufgefallen?«
»Gegenfrage: Warum hast du dich mit ihm getroffen, Mutter?«
»Nachdem ich wusste, dass er in Coburg ist, wollte ich ihn wiedersehen.« Victoria trocknet ihre Tränen mit einem Tempo. Die Schminke ist verschmiert. Die Schnitte in ihrem Gesicht verblassen bereits. »Herrgott, Sam, du hast das alles aufgerührt, Fotos herumgezeigt, unsere Familiengeschichte ins Internet gestellt und zugelassen, dass alle Welt sich daran weiden kann. Musste das sein? Hätten wir nicht alle Fragen unter uns klären können?«
Blanca, die eben noch die Arme um Victoria gelegt hat, wendet sich ab. Ihr Gesicht ist ausdruckslos.
»John Carrick ist ein kranker und ziemlich einsamer Mann. Gewesen«, sagt Sam. »Er hatte vor Jahren Krebs. Ihm lag nicht mehr viel am Aufrühren von Geheimnissen oder daran, andere Leute fertigzumachen. Sein Leben lang hat er sich nach Grace verzehrt.«
Blanca geht ans Fenster. Sie hinkt stark. »Das gibt es. Dass jemand so liebt.«
»Mutter, ich bitte dich!« Victoria erholt sich zusehends. »Nach drei Jahrzehnten!«
»Ist auch unwichtig«, unterbricht Sam. »Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass John Carrick kein Interesse daran hatte, irgendjemandem zu schaden, ins Handwerk zu pfuschen oder sonst was Gemeines zu tun. Er wollte …«
»Du kannst gar nicht wissen, was er wirklich wollte!«, setzt Victoria zum Gegenangriff an. »Wie auch? Warst du dabei, damals?«
Robert will etwas sagen, doch seine Frau wischt dieses Ansinnen mit einer Handbewegung beiseite. »Sam, ich
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