Babel 1 - Hexenwut
du nicht?« Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen. Sie war noch nicht mal am nächsten Treppenabsatz angekommen, da schallte schon wieder Musik aus der Anlage.
Als sie gerade den Helm aufsetzte, öffnete Karl das Fenster und rief: »Und ruf mich an, wenn du fertig bist!«
»Jawohl, Herr General.« Sie hob die Hand und fuhr los.
Als Babel die Stadt verließ und auf die Bundesstraße auffuhr, veränderte sich das magische Netz, das sie umgab. Selbst mit geschlossenen Augen hätte sie genau gewusst, wann sie die Stadt wieder betrat, als hätte jemand mit dem Zirkel einen Kreis darum geschlagen. Die Magie zwischen Städten auf freiem Feld oder in weniger ausgebauten Siedlungen war nicht so komplex, dafür jedoch manchmal kraftvoller. Sie spürte, wie ihre Verbindung mit dem Netz der Stadt schwächer wurde, bis sie sich ganz löste.
Nach einer zweistündigen Fahrt hatte sie das Ziel erreicht. Eine Stadt mittlerer Größe, die im Krieg stark zerstört worden war und zu DDR-Zeiten vom Braunkohleabbau profitiert hatte. Nach der Wende war die Industrie fast vollständig eingebrochen und ein Viertel der Bevölkerung weggezogen. Erst in den letzten Jahren hatte die Stadt einen Aufschwung erlebt und zog nun vor allem junge Leute an, die die niedrigen Lebenshaltungskosten nutzten, um neue Geschäftsideen zu entwickeln.
Lomar besaß im Stadtzentrum ein eigenes Studio, in dem er gerade an seiner neuen Platte arbeitete. Wenn der Auftrag erledigt war, würde sich Karl mit ihm in Verbindung setzen und das restliche Geld anfordern. Babel bekam der Sänger gar nicht zu sehen, was ihr sehr recht war. Superman gab schließlich auch nicht seine Identität preis.
Das Studio befand sich in einem Hochhaus im achten Stock hinter einer undurchsichtigen Fensterfront, die die ziehenden Wolken widerspiegelte. Auf der gegenüberhegenden Seite der breiten Allee gab es ein Cafe, in dem das Mädchen am Fenster saß und den Eingang des anderen Hauses beobachtete - genau wie die Wochen zuvor. Vor sich eine Tasse Kaffee und ein Stück Apfelkuchen. Lomars Leute hatten Karl bestätigt, dass das Mädchen jeden Tag dort saß. Niemand wusste, wie sie ihr Geld verdiente und woher sie allein die Zeit dafür nahm.
Sie tat nichts - abgesehen davon, das Haus zu beobachten, weil sie jeden seiner Schritte begleitete, soweit es ihr möglich war. Würde er abends aus dem Gebäude kommen, würde sie ihm weiter folgen, bis es ihr eine Tür und das Sicherheitspersonal unmöglich machten.
Babel parkte die MZ auf dem begrünten Streifen, der die breite Straße trennte, und sah zu dem Cafe hinüber, aber sie konnte nicht viel erkennen. Ihre magischen Sinne nahmen nichts anderes wahr als das Pulsieren des Orts. Sie überquerte die Straße und betrat das Cafe, in dem es nach Kaffee und aufgebackenen Brötchen roch. Das Mädchen entdeckte sie an einem Ecktisch am Fenster. Sie hatte nicht aufgesehen, als Babel eingetreten war, denn ihre Neugier erstreckte sich nur auf ein einziges Feld. Ein paar Tische entfernt von ihr setzte sich Babel und beobachtete sie dabei, wie sie ihrerseits den Hauseingang beobachtete. Hin und wieder nippte das Mädchen am Kaffee, doch ihr Blick blieb lauernd auf den Hauseingang gerichtet.
Babel fand, das Foto wurde dem Mädchen nicht im Geringsten gerecht. Im echten Leben besaß sie eine eigenwillige Ausstrahlung, die durchaus faszinierend war. Sie war klein, aber kräftig, und das braune Haar fiel ihr in dichten, schimmernden Wellen den Rücken herab. Sie trug ein Kleid mit großen, bunten Blumen und rote Kirschohrringe und erinnerte Babel an die Frauen, die Gauguin gemalt hatte - auf den zweiten Blick sinnlich und geheimnisvoll. Man konnte ihr nicht jeden Gedanken vom Gesicht ablesen, erkannte aber ihre geistige Wendigkeit.
Dem Foto fehlte alles, was sie in Wirklichkeit ausmachte: Bewegung, Gestik, Mimik. Lebendigkeit.
Warum machte sich eine Frau wie sie die Mühe, diesem einen Mann wie besessen zu folgen, wenn sie doch so viele andere haben konnte? Aber vielleicht ging es ihr wie vielen Frauen: Sie wollte keinen anderen, wenn sie diesen einen noch nicht gehabt hatte!
Babel nahm sich ihre Aura vor. Sie tat, als würde sie husten und pustete dabei ein wenig Holzasche in die Luft, die sich durch ihre magischen Energiewellen im Raum verteilte. Während Außenstehende glauben mochten, sie würde konzentriert ins Nichts starren, verschob sich stattdessen ihr Blick - wie bei diesen Vexierbildern, in denen man irgendetwas erkennen sollte:
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