Babel 1 - Hexenwut
Sie wusste, dass Sam ihr noch immer Briefe schrieb, und genau wie ihre Mutter befürchtete sie, dass Babel noch einmal so die Kontrolle über sich verlieren könnte wie vor über zehn Jahren, wenn sie ihm erneut nachgab.
»Ich habe ihn nicht geöffnet.«
»Gut.«
»Du musst mich nicht kontrollieren.«
»Ich weiß.«
»Okay.«
»Okay.«
Das Schweigen, das folgte, war aufgeladen mit Emotionen. Ihr Verhältnis war nie ganz frei von Spannungen gewesen, aber nachdem Babel mit achtzehn versucht hatte, während einer Dämonenbeschwörung Judiths Energien anzuzapfen, um zusätzliche Kraft zu gewinnen, war ihre Schwester das Misstrauen ihr gegenüber nie wieder ganz losgeworden. Selbst nach all diesen Jahren konnte Babel noch immer diese leise Angst in Judith spüren, obwohl sie ihr mehrfach versichert hatte, dass sie damals nicht Herrin ihrer Sinne gewesen war und sich so etwas nicht mehr wiederholen würde. Jedes Gespräch mit ihr kam irgendwann in seinem Verlauf einmal auf dieses Thema zu sprechen, direkt oder indirekt. Das war auch der Grund, warum Babel so selten mit ihr redete.
Nach ein paar Sekunden räusperte sich Judith und fragte, als wäre nichts gewesen: »Hast du denn in letzter Zeit einen Mann kennengelernt?«
Die Frage überraschte Babel allerdings nicht im Geringsten. Diesen Themenwechsel nahm Judith immer vor, wenn sie merkte, dass Babel nicht auf sie einging. Dann kam sie auf ihr zweitliebstes Thema neben der Magie zu sprechen: Männer. Sie liebte sie. In allen Formen: große, kleine, dicke, dünne, mit Grips und ohne, Hauptsache, sie waren bereit, Judith auf Händen zu tragen. Seit sie zwölf war, glaubte sie an die große Liebe - die sie seither alle paar Wochen traf.
Zumindest hatte ihre ausdauernde Suche sie nie pessimistisch werden lassen, auch wenn sich die meisten Männer als Vollidioten herausgestellt hatten. Manchmal kam Babel der Verdacht, dass Judiths große Liebe eigentlich darin bestand, dass sie alle Männer liebte. Jedenfalls war es Judith vollkommen schleierhaft, wie man sich nicht permanent verlieben konnte, schließlich liefen da draußen doch genug Männer herum. Die wiederholte Beteuerung ihrer Geschlechtsgenossinnen, dass sich ein Großteil davon nicht eignete, um sich zu verlieben, beantwortete sie regelmäßig mit einem irritierten Zwinkern.
Leider hatte ihre Liebe zur Männerwelt sie auch schon in die Arme von Halbkriminellen und Adrenalinjunkies geführt, was zu einem blauen Auge, zwei Knochenbrüchen und vier Anrufen bei der Polizei geführt hatte. Bei zwei dieser Auseinandersetzungen war sie später mit dem Polizeibeamten ausgegangen. Man konnte also durchaus von einer gewissen Unverbesserlichkeit ihrerseits ausgehen.
Aber wer war Babel, ihrer Schwester schlechten Männergeschmack vorzuwerfen? Wenigstens waren Judiths Liebhaber ausschließlich Menschen gewesen.
Sie dachte an Sam und bekam Bauchschmerzen, dann dachte sie an Tom und bekam glühende Wangen. Zum Glück gab es keinen Spiegel in der Nähe, der den Verdacht bestätigen könnte, dass sie wegen eines Plags rot geworden war.
»Dann wärst du sicher die Erste, der ich es erzählen würde«, beeilte sie sich zu sagen.
»Nein, wäre ich nicht, und deswegen muss ich zu solchen Maßnahmen greifen, sonst erfahre ich ja nichts. Aber bitte schön. Ich wollte ja auch nur wissen, ob du zu Pfingsten nach Hause kommst.«
Einen Moment lang erwog Babel abzusagen, aber dann würde ihre Mutter womöglich auch noch anrufen, und das war etwas, das sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gebrauchen konnte - also sagte sie zu. Außerdem war ihr beim Anblick von Judiths Taube eine Idee gekommen, wie sie vielleicht herausfinden konnte, ob eine der anderen Hexen in letzter Zeit Kontakt mit Totenenergien gehabt hatte, ohne in deren Anwesenheit Magie anzuwenden.
»Sag mal, hast du noch immer deine Rabenkrähen?«
»Ja, warum?«
»Kannst du mir eine leihen?«
»Was willst du mit meinen Krähen?«
»Herausfinden, ob eine andere Hexe Kontakt mit Totenenergien hatte. Rabenkrähen sind Aasfresser, die eignen sich für solche Zauber.«
»Dafür gibt es einfachere Wege, als ein Tier abzurichten.«
»Nicht im Beisein einer Hexe. Wenn ich anfange, Holzasche zu verteilen, merken die das sofort.«
»Sag mal, woran arbeitest du da eigentlich genau?«
»Mord.«
»Du willst jemanden umbringen?«, kam es entsetzt durch den Hörer.
»Nein, ich will herausfinden, ob jemand einen Mord begangen hat.«
»Ich weiß nicht, ob mir das
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