Babel 1 - Hexenwut
lag in einer kurzen Straße im Zentrum der Stadt, in einem vierstöckigen Haus gegenüber der Polizeidirektion. Von den beiden Gebäuden eingekesselt, verlief die Straße nur ein kurzes Stück, als wäre sie lediglich eine optische Trennlinie zwischen den Organen der Staatsmacht. Das Gebäude war im neoklassizistischen Stil errichtet. Hohe Rundbögen ließen jeden Besucher klein wirken, und die Gitter an den Fenstern waren weder einladend noch beruhigend. Die wenigen Stufen zum Eingang genügten, um jeden nervös zu machen, selbst wenn man sich gar keiner Schuld bewusst war. An der Straßenecke standen vier Polizeiwagen, die das Bild vervollständigten. Die Staatsmacht verschluckte einen Besucher nicht nur, sie trieb ihn auch von hinten an.
Babel sehnte sich nicht gerade danach, dieses Gebäude zu betreten. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich an dieser Stelle eine unangenehme Atmosphäre verbreitet, die verstärkt Dämonen anzog. Angesichts des täglichen Elends, das sich hier abspielte, war das allerdings kein Wunder. Sie ernährten sich von negativen Gefühlen und entzogen den Menschen Kraft.
Das Motorrad hatte sie zu Hause stehen lassen, weil der Rock es ihr unmöglich machte, richtig darauf zu sitzen. Stattdessen war sie Straßenbahn gefahren - gemeinsam mit gefühlten hundert Schulkindern mit Schwimmbeuteln, die nicht nur alle nach Chlor rochen, sondern auch wie taube Rockstars brüllten. Weder Babels Kopfschmerzen noch ihrer Geduld war die Fahrt besonders zuträglich.
Entsprechend erleichtert war sie, als sie die Bahn endlich verlassen konnte, aber diese Erleichterung hielt nicht lange vor, denn schon als sie den Fuß auf den Boden setzte, spürte sie, dass sich die Energien um sie herum verdichteten. Wie Haie, die ihre Beute erst streiften, um zu sehen, ob sie blutete, so umkreisten die Dämonen Babel. Sie konnte das Kratzen an ihrem Energienetz fühlen. Ihr Atem beschleunigte sich, und sie sandte Magiewellen aus wie Stromschläge. Zu ihrer Erleichterung zogen sich die Dämonen zurück. Sie schüttelte sich.
Als sie um die Ecke bog, sah sie Tom an der Hauswand lehnen, und sein Anblick traf sie wie ein Blitz.
Er trug eine dunkle Lederhose, die so eng anlag, dass sie ziemlich wenig der Phantasie überließ. Alles, was er besaß, wurde ansprechend verpackt präsentiert. Dazu ein grünes Leinenhemd mit V-Ausschnitt, der einen Ausblick auf die Brustmuskeln darunter freigab. Die Ärmel waren nach oben gerollt und betonten die sehnigen Unterarme, nur für den Fall, dass ein Betrachter irgendwie übersehen hatte, dass der Träger dieses Hemds aussah wie die fleischgewordene Anatomiestudie eines Leonardo da Vinci. Die Haare hatte er zum Pferdeschwanz gebunden, sodass man die Ringe in seinen Ohren sehen konnte, und am Handgelenk blitzte das Silberarmband.
Zu seinen Füßen lag der Hund von Baskerville, eifrig damit beschäftigt, den Gehweg vollzusabbern. Von Weitem konnte man Urd durchaus für ein Kalb halten.
Männer in Anzügen warfen Tom misstrauische Blicke zu, während sie an ihm vorübereilten, denn er passte nicht in ihre Welt der Statussymbole und teuren Anzüge. Das machte ihn per se verdächtig und seine Hündin gleich mit. Er aber lächelte nur, die Daumen lässig in den Gürtelschlaufen.
Für einen Moment verabschiedeten sich Babels Gedanken und machten einem Laut in ihrer Kehle Platz. Verbunden mit einem Ziehen zwischen Magen und Unterleib, das deutlich zeigte, wie Instinkte funktionierten. Kein Wunder also, dass der erste klare Gedanke, der sich wieder in ihrem Kopf formte, eine Frage war.
Was spricht bitte schön dagegen, sich die Kleider vom Leib zu reißen und den Tag mit diesem Mann im Bett zu verbringen?
Zum Glück stellte sich der Verstand aber recht schnell wieder vollständig ein, sonst wäre es mitten auf der Straße zu einem Tumult gekommen und die Polizei hätte sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet. Sie verbuchte das Ganze als emotionalen Ausrutscher und schob es auf ihre Gereiztheit, ausgelöst durch die rotäugigen, kreischenden Chlormonster in der Straßenbahn.
Als eine junge Frau an Tom vorüberging und stolperte, weil sein Anblick sie so aus dem Konzept gebracht hatte, griff er nach ihrem Arm und richtete sie auf. Ihr rotes Gesicht konnte Babel sogar noch auf der anderen Straßenseite sehen. Während die Frau weiterlief, sah sie sich noch ein paarmal nach ihm um, bis er den Arm hob und ihr winkte, worauf sie fluchtartig die Straßenseite wechselte.
Babel
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