Babylon in Hongkong
bewegen, tauchte weg und sah, daß neben mir jemand von einem Pfeil in die Brust getroffen wurde. Er taumelte zurück, beide Hände um den Schaft geklammert. Dann hatte ich Ruhe, bewegte mich rückwärts gehend auf das Schanzkleid zu, lehnte mich dagegen, schaute zum Heck hin und sah auf dem Oberdeck eine dunkle Gestalt, deren obere Gesichtshälfte von einer schwarzen Maske verdeckt war. In der Hand hielt die Gestalt ihre Waffe, eine Armbrust mit aufgelegtem Pfeil, seit einiger Zeit das Wahrzeichen einer Person, die einmal an Sukos Seite gekämpft hatte und auf den Namen Shao hörte, die letzte in der langen Ahnenkette der Sonnengöttin Amaterasu.
Ich staunte sie an und schaute zu, wie sie mit geschmeidigen Bewegungen ihren Platz verließ, auf das normale Deck sprang und mir entgegenlief.
Vier Masken lagen auf den Planken. Zwei von ihnen rührten sich nicht mehr, die anderen beiden stöhnten.
Shao nickte nur. Wie immer war sie ganz in Leder gekleidet, das schwarze Haar hatte sie zusammengebunden. Sie wirkte in dieser Kleidung wie ein Gespenst oder ein weiblicher Klabautermann. Ich schüttelte den Kopf. »Meine Güte, Shao, wo kommst du denn her? Was ist geschehen?«
Shao entspannte sich etwas, senkte den Arm, der aufliegende Pfeil wies nach unten. »Ich mußte kommen, ich habe gespürt, wie sehr Suko in Nöten war.«
»Geht es ihm schlecht?«
»Er befindet sich unter Deck und steht wahrscheinlich seinem Vater gegenüber.«
Stöhnend und zischend atmete ich aus, während ich nickte. »Dann stimmt es also doch. Dann hat er nicht gelogen. Sukos Vater lebt.« Ich hob die Schultern. »Wird er ebenfalls hier gefangengehalten?«
Shao lachte mich aus. »Gefangengehalten? Nein, was denkst du? Sukos Vater ist der Mandarin.«
Ein Treffer in den Magen hätte mich kaum härter erwischen können als diese Antwort. »Sag… sag das noch einmal…«
Sie wiederholte den Satz.
»Und das ist wahr?«
»Ja, er ist der Mandarin. Aber das später. Wir haben nur einen kleinen Schritt getan, die anderen sind größer, die noch vor uns liegen. Wir müssen Suko befreien.«
»Er befindet sich unter Deck?«
»Im Laderaum.«
»Dann los.«
Sie hielt mich fest. Ich wunderte mich über den harten Griff. »Nicht so voreilig, John, du hast noch etwas vergessen.«
»Was denn?«
»Das hier.« Shao wies auf die Harpune, die so schwer und mächtig aussah.
»Die soll ich mitnehmen?«
»Und ob.«
»Weshalb denn?«
»Sie ist eine Waffe, die du eventuell gebrauchen kannst. Du mußt Brücken abbrechen, Wege zerstören, nur so kannst du ein Babylon in Hongkong vernichten. Du mußt das Feuer mit Benzin löschen, so schlimm es sich anhört. Diese Waffe besitzt nur einen Schuß, aber er wird reichen. Tao hatte sie hergestellt, er ist ein genialer Feuerwerker, er wollte damit das Babylon in Hongkong einläuten.«
Ich schaute mir die Waffe aus der Nähe an. Die Harpune oder was immer sie sein mochte, bestand aus einem Metallzylinder, der sich an seinem Ende verdünnte und in einen Gegenstand mündete, den man als Gewehrkolben bezeichnen konnte. Sogar einen Abzugshahn sah ich.
»Nur einmal«, sagte Shao, »nicht mehr.«
»Gut.«
»Dann bleibe hinter mir.«
Wir schlichen über das Deck. Ich hatte die mächtige Harpune, die trotz ihrer Masse relativ leicht war, unter den linken Arm geklemmt, in der rechten Hand hielt ich die Beretta.
Zwar wußte ich nicht genau, wie zahlreich die weißen Masken auf der Dschunke verteilt waren, ging jedoch davon aus, daß sich noch einige hier aufhielten.
Shao dachte nicht anders. Sehr vorsichtig bewegte sie sich über die Planken, ein gespenstischer schwarzer Schatten, der an vielen Stellen mit der Dunkelheit verschmolz. Sie suchte und fand stets eine gute Deckung, und wir näherten uns einem Niedergang, der tief hinein in den Bauch der alten Dschunke führte.
»Ist niemand mehr im Ruderhaus?« wisperte ich.
»Da war ich schon.«
»Aha.« Mir reichte die Antwort, und ich stellte keine weiteren Fragen mehr.
In einem kleinen Aufbau entdeckten wir eine Tür, die leicht vibrierte. Ich wollte mich an Shao vorbeischieben, sie aber drückte mich zurück. Mit dem sicheren Instinkt einer Person, die sich in fremden Welten aufhielt, mußte sie bemerkt haben, daß sich hinter der Tür etwas tat. Und sie hatte recht.
Plötzlich wurde die Tür nach außen gedrückt. Shao huschte gedankenschnell zur Seite.
Ein weißes Gesicht erschien, dann ein Körper, der geduckt das Deck betrat.
Der Mann trug ein Kurzschwert in
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