Babylon: Thriller
bekennen, dass es das erste Mal war, dass ich sie zu Hause besuchte. Samuel hatte sich um sie gekümmert, und wenn wir uns trafen, dann stets nur bei Ausflügen, die er arrangiert hatte, oder zu Abendessen oder an Wochenenden in unserer Wohnung. Und wenn er außer Landes war, hatte er immer jemanden engagiert, der sie versorgte.
Das Apartment war klein, aber peinlich sauber und aufgeräumt. Wie sie das bei ihrer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit schaffte, konnte ich mir nicht vorstellen. Auf dem Tisch neben der Couch lag eine Tablettenbox mit Fächern für jeden Wochentag. Daneben standen ein halbvolles Glas Wasser und ein Karton mit Papiertüchern. Sie besaß einen kleinen Fernseher, ein Radio, Bücher und einige persönliche Dinge, die sie in einem Wandregal aufbewahrte; eine einfache Kochnische und ein Bad; und eine Nische für ihr Bett. Ein hübsches Möbelstück stand in der Wohnung, eine Anrichte, die einmal Samuel gehört hatte. Darauf standen mehrere gerahmte Fotos, eins von ihr und Samuel, alle anderen von mir – wir beide während eines Spaziergangs im Central Park, ich mit einem tropfenden Eishörnchen, Bilder aus der Grundschule und von der Universität. Das überraschte mich ein wenig.
Ich hatte mir vorgenommen, nichts über Hal und sein Rätselspiel und über meine Zeit im Irak zu erzählen. Es hätte sie nur unnötig aufgeregt. »Evie, es tut mir wirklich leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich dich endlich besuche. Über den Unfall hinwegzukommen und mich damit abzufinden, dass ich jetzt ganz alleine bin, war nicht leicht und hat mich einige Mühe gekostet. Ich musste das auf meine eigene Art und Weise verarbeiten.«
»Du weißt, dass er eure Wohnung verkauft hat, nicht wahr? Ich wollte dich noch warnen. Samuel wollte es dir nach seiner Rückkehr sagen, aber dazu hatte er natürlich keine Gelegenheit mehr. Ich habe ihn angebettelt, es nicht zu tun. Es war dein Zuhause, doch er wollte nicht hören.«
Ich fragte mich, wie viel sie über die ganze Affäre wusste. »Hat er verlauten lassen, warum er die Wohnung verkaufen wollte?«
»Um dem Museum zu helfen. Um seine Schätze zu beschützen. Er war ein guter Mensch, aber er ging einfach zu weit. Er hat veräußert, was von Rechts wegen dir gehört hat. Und das war nicht fair.«
Ich lächelte und erwiderte: »Das ist jetzt erledigt und ich komme ganz gut zurecht.« Samuel und Evelyn verband eine tiefe Freundschaft und ich wusste, dass sie einander alles anvertrauten. »Apropos Schätze, du erinnerst dich doch an den kleinen Kasten, den Samuel mir einmal zum Geburtstag geschenkt hat.«
»Natürlich. Du hast so oft damit gespielt.«
»Samuel sagte einmal, er sei Teil meines Erbes. Aber ich habe nachgedacht. Gibt es noch etwas anderes? Hat er mit dir über meine Eltern gesprochen? Gibt es irgendwelche Fotos, die ich noch nicht kenne? Briefe? Irgendwelche Aufzeichnungen? Dokumente?«
»Da ist nichts mehr.«
»Es ist nur so, dass ich Fragen habe … dass ich mehr über meine Vergangenheit in der Türkei wissen will.«
In einer scheinbar unbewussten Geste legte sie eine Hand auf ihr Herz. »Als ich in dieses Land kam, sagte ich mir: ›Dies ist deine neue Chance. Wenn du dich ständig an schlechte Dinge aus deiner Vergangenheit erinnerst, werden sie zu Dämonen, die dich quälen. Vergiss sie!‹ Und das habe ich getan. Mach dich nicht unglücklich, indem du solche Fragen stellst, John. Das hilft dir nicht weiter.« Sie hatte mir bei diesen Worten nicht in die Augen geschaut, was überhaupt nicht zu ihr passte. Vielleicht ergab sich ja später eine Gelegenheit, bei der sie mir gegenüber ein wenig offener, mitteilungsfreudiger wäre.
Wir unterhielten uns noch für eine Weile, aber ich merkte, wie sie zusehends müde wurde. Ich half ihr, sich für die Nacht fertig zu machen, und sah voller Kummer, welche Anstrengung und Schmerzen es sie kostete, ihren Rollstuhl zu verlassen und zu Bett zu gehen. Ich küsste sie auf die Stirn und wünschte ihr eine gute Nacht.
Ein paar Tage später besuchten wir gemeinsam Samuels Grab. Es hatte sich einiges verändert. Ich sah in ihm nicht mehr den Bösen, aber auch die Aura eines Heiligen hatte angesichts der schmerzhaften Folgen des Desasters, das er in Gang gesetzt hatte, Risse bekommen. Ich war dankbar für diese Art innerer Wiedervereinigung und dafür, dass ich wieder voller Wärme und ohne irgendwelche Ressentiments an ihn denken konnte.
Ich mietete ein kleines Apartment im Astoria und versuchte, meine
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