Babylons letzter Wächter (German Edition)
Zerstreuung einen Fernseher gestellt, einen DVD-Recorder der neusten Generation und jeden neuen Film, um den er bat. Meist waren es aktuelle Blockbuster, die er nie gesehen hatte. Keine Filme, die Erinnerungen wecken konnten. Eine zensierte Plastikwelt, die ihn nicht allzu sehr beunruhigen konnte. Nachrichten wurden herausgeschnitten. Filme durften keine Informationen über das aktuelle Zeitgeschehen enthalten. Einmal, da hatte er um einem aktuellen politischen Film gebeten. Nach langen Diskussionen mit Mister Chase wurde es genehmigt, allerdings war der kontroverse Film von seiner ursprünglichen Länge mit neunzig auf gerade mal zehn Minuten gekürzt worden. Ansonsten war das soziale Leben des Wächters sehr eintönig. Gelegentliche Besuche der Putzfrauen und von Mister Chase. Die Wohnung im obersten Stockwerk glich trotz ihrer modernen Ausstattung, die einst von einem hochdotierten Architekten entworfen wurde, einer mittelalterlichen Mönchszelle. Jeder Quadratmeter roch nach Reinigungsmittel. Unter dem Waschbecken lag eine tote Fliege. Sie würde nicht lange dort bleiben. Eine der Überwachungskameras hatte sie bereits im Zoom erfasst und speicherte die Daten für den Einsatz der Putzkräfte am nächsten Tag. Über Allem das leise Summen der Klimaanlage.
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Gegen die Gleichschaltung
Wir sind stolz, dass der Babylon Tribunal zu einer der letzten Tageszeitungen gehört, die noch nicht der Tower Corporation angegliedert wurde. Oder besser gesagt untergeordnet. Mit Schrecken mussten wir beobachten, wie ein Sprachrohr der Freiheit nach dem anderen gleichgeschaltet wurde. Nicht mit einem alles umfassenden Gesetz. Damit wären sie nicht an unserer demokratischen Verfassung vorbei gekommen. Nein, sie erfolgte nach den strengen Gesetzen der freien Marktwirtschaft, als eine Reihe von Fusionen, die nur eingeweihte Anleger durchschauten. Welche Kontrollbehörde würde denn da regulierend eingreifen wollen? Solange keine Aktionärsversammlung protestierte, wurde kein Einwand erhoben. Jeder weitere Firmenzusammenschluss ließ die Gewinne steigen und die Bedenken sinken. Wer allerdings im Grundbuch nachblätterte, fand überall George Chase als Inhaber eingetragen.
Das Volk wurde belogen, die öffentliche Meinung monopolisiert. Zur selben Zeit schlug die Politik einen zunehmend theokratischen Weg ein. Der allgemein verbreitete Wächterkult wurde zur anerkannten Staatsreligion mit Präsident Chase als ihrem geistigen und weltlichen Führer.
Wir fordern die strikte Trennung der Personalunion von Hohepriester und Präsident. Des Weiteren die Zerschlagung der Tower Corporation. Streut Sand in die Lügenmaschinerie der Propaganda. Unterwerft euch nicht mehr länger Präsident Chase’s Diktat. Streik! Streik! Streik!
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Aus Sicherheitsgründen erschien dieser Artikel auf der zweiten Seite. Das Titelblatt zierte ein Bericht über einen Hurrikan im mittleren Westen. Aktion Deckmantel war ein voller Erfolg. Anders hätten sie ihren Protest auch nicht unters Volk bringen können. Die Auflage wäre schon vergriffen gewesen, bevor sie in den Handel kam. Auch Geheimdienste lasen Zeitung. Vielleicht noch interessierter als andere.
Der Babylon Tribunal wehrte sich, solange er noch die Mittel dazu hatte. In den letzten Monaten hatten ihre Informanten reihenweise die Seiten gewechselt, und eine objektive Berichterstattung war kaum noch möglich. Chefredakteur Andrew Geiger war nervös. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, und nun kam es auf die Reaktion der Leser an. Sie konnten das Ruder rumreißen. Ihnen Zuspruch spenden. Er setzte gerade eine neue Kanne Kaffee auf, als die Eingangstür des Großraumbüros eingetreten wurde. Wie ein Ameisenschwarm strömte eine bis an die Zähne bewaffnete Spezialeinheit herein. Ihre schweren Springerstiefel polterten im Marschschritt über die aus ihren Angeln gerissene Tür. Die verdunkelten Visiere ihrer Helme verliehen ihnen das bedrohliche Aussehen von Insektenaugen.
„Das Büro ist umstellt. Alle Fluchtwege sind abgeschnitten. Legen sie sich auf den Boden, die Hände über den Kopf.“
„ Was geht hier vor?“
Geiger war unter seinen Angestellten eine Autoritätsperson. Mit dem ihm gewohnten Selbstbewusstsein versuchte er Herr der Lage zu werden. Darum war er auch der Erste, der erschossen wurde.
„Wenn noch einer meint vorlaut sein zu müssen, dann darf er sich gerne melden.“
Vollkommene Stille. Ein Stapel Papiere rutschte mit einem lauten Knall von Geigers
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