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Babylons letzter Wächter (German Edition)

Babylons letzter Wächter (German Edition)

Titel: Babylons letzter Wächter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Reich
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ja?“
    Meine Visionen gehörten mir. Noch. Ich behielt mein Wissen für mich, welche Rolle Chase in der neuen Staatsreligion spielte. Wer weiß, ob mir das eines Tages von Nutzen sein würde. Die Tür schloss sich hinter Chase und ich war wieder allein. Der Drecksack bluffte gut genug für eine Höllenpartie Poker. Ich hörte jeden seine Schritte auf dem Gang. Von wegen schalldicht! Er wollte mich nur auf Touren bringen, nichts weiter.
     
    *
     
    „ Mir wurde berichtet, in den letzten Tagen wäre es ihnen nicht gut gegangen.“ „Lassen sie mich in Ruhe.“
    „ Warum denn immer so feindselig, mein lieber Wächter? Dazu besteht kein Grund.“
    „ Ach. Als hätte ihr Besuch jemals etwas Positives bedeutet?“
    „ Nun, sie mögen Recht haben. Ich bin nicht grundlos hier. Bestimmt sind ihnen der Fernseher und das Fenster aufgefallen.“
    „ Die Gnade meiner neuen Freiheiten hat mich wirklich verwundert.“
    „ Ihr Zynismus beißt bei mir auf Granit. Freuen sie sich doch über die Annehmlichkeiten, die wir ihnen zur Verfügung stellen.“
    „ Und sie wollen mir etwas von Zynismus erzählen? Was für ein verlogener Bastard sie doch sind!“
    „ Nun, wir wollen sie auf die Rückkehr ins reale Leben vorbereiten. Nach der langen Isolation wollen wir das langsam angehen.“
    „ Heißt das, ich werde freigelassen?“
    „ Gott bewahre, nein. Wir haben andere Pläne mit ihnen vor. Wir wollen sie der Öffentlichkeit vorstellen.“
    „ Wie passt das alles in ihren Staatskult, der mehr auf Mythen als auf konkreten Gegebenheiten beruht?“
    „ Nun, vielleicht erinnern sie sich an die Geschichte der Bibel. Die christliche  Glaubenslehre verbreitete sich erst so rasant, als Jesus aus dem Grab stieg. Mit ihnen haben wir Ähnliches vor.“
    „ Was kann ich mir darunter vorstellen?“
    „ Wie sie so schön sagten, beruht der Wächterkult hauptsächlich auf Mythen. Wir wollen ihm wieder etwas Leben einhauchen. Konkrete Bezugsobjekte liefern.“
    „ Und dieses Objekt bin ich.“
    „ Ganz richtig. Wenn wir den Menschen erzählen, dass der Wächter von den Toten wiederauferstanden ist, flippen die total aus. Sie bekommen eine reale Person zum Greifen nahe. Stellen sie sich vor, der Wächter in jedem Wohnzimmer, auf T-Shirts, Kinderspielzeug und Getränke-bechern. Der Himmel allein ist die Grenze! Es wird der Tag kommen, da ist ihr benutztes Klopapier mehr wert als das Turiner Grabtuch.“
    Ich fühlte mich wie erschlagen. Chase hielt mir buchstäblich den verführerischen Schinken vor die Nase. Er ließ mich meine Freiheit ahnen, doch der Haken war ein gewaltiger.
    „Ich werde sie jetzt wieder alleine lassen. Überstürzen sie nichts, gewöhnen sie sich langsam an ihre neue Rolle. Sie haben alle Zeit, die sie brauchen. Morgen kommen die Näherinnen, um für ihre goldene Soutane Maß zu nehmen.“
     
    *
     
    Ich wollte nur schlafen. Schlafen, den ganzen Tag. Wenn ich schlief, konnte ich träumen. Es war wie eine Flucht, ein Fenster, ein Versteck. Ich fühlte mich bis in den tiefsten Winkel meines Innersten vergewaltigt und missbraucht. Mein Kopf fühlte sich geschwollen an, als hätte man Baseball mit ihm gespielt. Wenn ich wach war, sah ich fern. Doch die Bilder fanden keinen Weg in mein Gehirn, mein Blick ging durch das Gerät durch, auf einen Punkt am Horizont, fernab dieser Zelle. Ich war ein Monster geworden.
    Nein, man hatte mich zu einem gemacht. Und ich wäre draußen genauso unfrei wie hier drinnen. Was von meiner Person übrig war, wurde grundlegend zerstört. Nie wieder würde ein Mensch etwas anderes in mir sehen als den allmächtigen Wächter. So wie ein ehemaliger Sträfling immer das Kainsmal der Schande auf der Stirn trug. Spürte ich die Schuld schwer auf mir lasten. Ich war Schuld an Leid und Unterdrückung. Daran, dass Menschen ihr Blut für mich ließen. Draußen gab es nur zwei Möglichkeiten für mich. Entweder ich spielte die Rolle brav weiter, die man mir auferlegt hatte. Oder ich offenbarte mich ihnen. Nahm dem Mythos seinen Glanz. Aber selbst, wenn sie mir glaubten: Würden sie mir verzeihen? Wenn sie jahrelang belogen wurden, würde sich ihr Hass nicht zuerst gegen mich richten? Das empirische Objekt ihrer Religion?
    Ohne mich wäre es gar nicht erst soweit gekommen. Wenn ich schon mir nicht verzeihen konnte, wie sollten sie es dann können?
     
    *
     
    Auf den Monitoren der Sicherheitszentrale sah man den Wächter am Fenster stehen. So wie er es stundenlang tat. Tagelang. Man hatte ihm zur

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