Babylons letzter Wächter (German Edition)
erscheint es mir klarer. Als ob er zu mir spricht.“
„ Lass es gut sein für heute. Mir tut der Schädel weh.“
„ Okay. Ein paar Runden in der Halfpipe dürften uns gut tun.“
*
Wenn er dahinter kam, war ich erledigt. Wächter hin, Wächter her. Dann stellte halt ein Anderer das theokratische Oberhaupt. Es würde ihnen eine kurze Spanne lang Leid tun, um meine Fähigkeiten. Dann würden sie wieder zum Tagesgeschehen übergehen. Mit einem Nachfolger, der es verstand, ein gutes Gesicht zur bösen Kamera zu machen. Chase wusste nicht, dass ich auch seine Träume abhörte.
Er fürchtete den Jungen. Nicht dass er wusste, dass es ein Junge war. Sein Alptraum war die diffuse Figur des Auserwählten, die wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf baumelte. Immer öfter verließ er Stabssitzungen mitten im Satz, um sich zurück zu ziehen. Nach der Gründung der Staatsreligion stand nun die wichtigste Phase des Wächterkults bevor. Und es war doch nur ein dummer Mythos, nicht wahr? Seiner Genialität alleine war es zu verdanken, dass aus einem kleinen Märchen ein so starker Volksglaube wurde. Sollte er da vor der Kehrseite der Legende Angst haben? Der Wächter war nur real, weil sie mich in diese Rolle drängten. Wie real konnte da also der Auserwählte sein, der den Wächter aus seinem Gefängnis befreite?
Das waren die Fragen, die Chase nicht schlafen ließen. Wartete da draußen ein David, der seinen Goliath zu erlegen suchte? Der Kult hatte sich verselbstständigt. Also war auch der Auserwählte plötzlich denkbar. Sein klarer Plan zerrann ihm zwischen den Fingern. Nein, es durfte einfach nicht sein!
*
Ich spürte Chase Angst, aber ich hatte einen Vorsprung. Noch wusste er nicht, dass ich es wusste. Oder dass ich den Jungen gerufen hatte. Und der Junge war jetzt näher. Ich spürte es. Und er war nicht alleine. Mir gefiel der Gedanke nicht, dass er einen Unbeteiligten mit hinein zog. Der Junge hatte den Mut eines Bären, aber er war noch grün hinter den Ohren.
Ich wünschte, ich könnte in Chase besser lesen. Ich ahnte, dass er weitere Pläne mit mir hatte. Und dass mir die nicht gefallen würden. Hoffentlich verplemperten die Jungs keine kostbare Zeit.
*
Die Heldensonne war aufgegangen. Zack und Steve standen auf dem grünen Rasen, in ihren Rucksäcken klimperten Coladosen und Schokoriegel. Sie waren mit ihrem tollkühnen Vorhaben auf sich allein gestellt. Ihre Eltern waren früh am Morgen zur Arbeit gefahren.
„Ich verstehe nicht, warum du mich so drängst.“
„ Weil ich den Eindruck habe, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt.“
„ Und wie willst du den Wächter jetzt finden?“
„ Spürst du ihn nicht? Er hat mir aufgetragen, seinen Passionsweg abzuschreiten.“
„ Warum sollte er das tun?“
„ Wir sollen begreifen, wer er in Wirklichkeit ist.“
„ Eine Offenbarung, ja. Ich glaube, dass wir sehr weltliche Situationen seines Lebens sehen werden.“
Sie stiegen auf ihre Boards und rollten die Straße lang. Steve war wesentlich nervöser als sein Freund Zack. Er beobachtete ihn, wie er gelegentlich die Augen schloss und tief durchatmete. Wie ein Soldat vor dem Himmelfahrtskommando. Steve rutschte der Magen in die Kniekehlen, wenn Zack das bei voller Fahrt machte. Wie leicht hätte er mit seinem Skateboard in ein Schlagloch geraten können. Aber sein Freund schien sich seiner Sache absolut sicher zu sein. So allmählich glaubte er ihm, dass er der Auserwählte sein könnte.
Sie stiegen am Kennedypark in die U-Bahn ein. Geistesabwesend starrte Zack aus dem Fenster in die vorbeiratternde Dunkelheit. Er träumte mit offenen Augen.
*
Sie erinnerten mich. Damals war ich gerade dreißig geworden. Professor Doktor für angewandte Anglizistik an der Babylon State University. Auf dem Weg zu meiner Arbeit durchquerte ich den städtischen Park, in dem sich Laienprediger erbitterte Wortgefechte lieferten. Wenn ich abends heimkehrte, fand ich sie immer noch inmitten einer regen Diskussion. Manchmal setzte ich mich einfach auf eine Bank um ihnen zu lauschen. Das Angebot war breit gefächert, es gab die Verkünder des Weltuntergangs, die Sittenwächter der Nation und die Anarchisten, die sämtliche gesellschaftliche Regeln sprengen wollten.
Das Leben an der Uni begann mich zu langweilen. Die Diskussionen im Park gaben mir mehr als die Masse der Studenten, die mich hasserfüllt anstarrte. Denn keiner lernte für sich, alle nur für das Leben. Und das Leben war
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