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Babylons letzter Wächter (German Edition)

Babylons letzter Wächter (German Edition)

Titel: Babylons letzter Wächter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Reich
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draußen glauben an Sie. So, wie sie früher an einen Gott glaubten. Wir sind selbst darüber erstaunt. Hatte doch der Niedergang des Christentums für uns auch das Ende der Religiosität bedeutet. Der Mensch steckt doch voller Überraschungen, nicht wahr?
    Chase stand auf, blickte zum Fenster auf die Stadt hinab.
    „Es sind alles dumme Herdentiere, die lieber gemeinsam untergehen als einsam. Fressen und gefressen werden, ficken und gefickt werden, töten und getötet werden. Das ist der ewige Kreislauf des Lebens. Und hier setzte die Religion an. Gab Gemeinschaft. Erteilte Absolution. Selbst dem Mörder.
    Deswegen scheiterte das Christentum. Weil es Vergebung wie auf dem Jahrmarkt an alle verteilte! Damit nahmen sie der Nächstenliebe jeden Bezugswert. Und als die Nächstenliebe starb, fanden die Menschen keine Erlösung mehr in der Religion. Und dann kam der Wächter.“
    „Sie sind grausam.“
    „ So? Finden Sie?“
    Chase hatte sich umgedreht, die Sonnenbrille baumelte in seiner Hand. Mit Grauen erkannte ich seine stahlblauen Augen wieder. Ich wusste, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken ein Kind getötet hatten. Eines gestern. Und vielleicht viele zuvor. Er war der Hohepriester.
    „Wir sind nicht grausam. Das Volk bekommt das, was es verdient. Brot und Spiele. Wir lehnen uns zurück und genießen die Stille.“
    Ich  spuckte vor ihm aus.
    „Aber, aber. Vergeuden sie ihre Spucke nicht an mich, sie werden sie noch brauchen. Wir sind beileibe keine Mörder. Wir machen uns die Finger nicht schmutzig.“
    „ Ach nein? Unterstützen Sie nicht das Volk in seinem Irrglauben?“
    „ Ich verstehe nicht, was sie meinen.“
    „ Die Tempel der alten Religionen wurden geleert. Kreuze gesprengt. Bleiglasfenster zerschlagen. Um Platz zu machen für das Neue. Und erzählen Sie mir nichts von einem gesunden Volksbegehren. Der Spruch zog schon bei den Nazis nicht.“
    „ So viele Vorwürfe, mein lieber Wächter. Doch dabei übersehen sie eines: Sie sind längst ein Bestandteil dessen, was sie so verunglimpfen. Ob sie es nun wollen oder nicht! Die Menschen brauchen ein Fegefeuer, um geläutert zu werden.“
    „ Die ganze Sache geht zu weit.“
    Mister Chase nickte verständnisvoll.
    „Sehen sie, da sind wir einer Meinung. Wir sind doch auf ihrer Seite. Sagen wir mal, wir waren nur die Initialzündung. Niemand konnte ahnen, welche Richtung es einschlagen würde. Welche Dimensionen es annehmen würde. Ein Schwelbrand im Gebälk der Gesellschaft. Gib dem Volk Demut und sie machen daraus Selbstaufgabe. Komm einen Tag später wieder und sie sind bei Menschenopfern. Religion ist Interpretation. Wir waren nie Absolutisten. Haben Vielfältigkeit immer gefördert.“
    „ Wir sind doch beide erwachsene Menschen, Mister Chase. Was ist der wahre Grund ihres Besuchs?“
    „ Da denkt man, der alte Kauz verschläft friedlich den halben Tag und nichts möchte seinen Schlaf zu trüben. Sie haben Recht. Ich wollte mit ihnen über eine Zusammenarbeit reden.“
    „ Von welcher Zusammenarbeit reden sie?“
    „ Lassen sie uns teilhaben an ihren Visionen. Ihr inneres Auge reicht weiter als es jede unserer Überwachungskameras je vermag.“
    „ Sie haben mich jahrzehntelang weggesperrt wie ein schmutziges Geheimnis. Mir alles genommen. Was könnte ich ihnen noch bieten?“
    „ Wir brauchen den Wächter für den Mythos. Sie werden es nicht müde, den Kult zu kritisieren, der um sie getrieben wird. Erkennen sie denn nicht ihre Chance?“
    „ Welche Chance?“
    „ Bestimmen sie selbst mit, was die Leute von ihnen denken. Gestalten sie das öffentliche Meinungsbild aktiv mit.“
    „ Meine Vorstellung von Freiheit sieht anders aus. Reißen sie die Mauern meiner Zelle nieder.“
    „ Den Gefallen kann ich ihnen leider nicht tun.“
    „ Dann können sie mir gestohlen bleiben.“
    „ Wie gesagt, es sind nur ein paar gut gemeinte Ratschläge. Wir wollen keinen Druck auf sie ausüben, jedenfalls noch nicht. Gewiss, wenn sie sich jeglicher Kooperation versperren… Lassen sie mich wissen, wenn sie ihre Entscheidung getroffen haben. Die Muße zum Nachdenken haben sie ja.“
    Chase setzte seine Sonnenbrille wieder auf und drehte sich zur Tür.
    „Wussten sie eigentlich, dass ihre Zelle schalldicht isoliert ist?“
    „ Nein. Ich war ja noch nie draußen, um mich selbst zu hören.“
    „ Wirklich außerordentlich schade. Ich vermute, man würde draußen noch nicht einmal Schreie hören können. Denken sie noch mal über mein Angebot nach,

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