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Babylons letzter Wächter (German Edition)

Babylons letzter Wächter (German Edition)

Titel: Babylons letzter Wächter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Reich
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zusehends verfielen und bald nur noch den Tauben gehörten, die ihre Notdurft im Glockenturm verrichteten, zog sich das religiöse Leben in den Untergrund zurück. In düstere Katakomben, tief unter der Erde.
    Früher mochte es ein Teil der Kanalisation gewesen sein, aber davon war nicht mehr viel zu sehen. Der Raum war erweitert worden, um mehr Menschen zu fassen. An den Wänden brannten alte Gaslaternen. Diese vermochten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Halle über eine hervorragende technische Ausstattung verfügte. Die Messen wurden im wöchentlichen Rhythmus im Fernsehen übertragen. Geduldig warteten die Gläubigen zu beiden Seiten des Mittelgangs auf den Hohepriester. Unter den dunklen Kutten tuschelte es. Sie warteten ungeduldig.
    Als er eintrat, badete er auf einer Woge des Applauses, die vom Band eingespielt wurde. Peitschte die Menge auf. Darunter mischte sich auch echter Beifall. Er schüttelte die Arme in einer einnehmenden Siegerpose, wie ein Boxer, der die Arena betritt. Vorne stand ein alter Steinaltar, der aus einer der demolierten Kirchen stammte. Wer ihn dort aufgestellt hatte, wusste kein Mensch. Vielleicht ein Beutezug der Monochrome Men. Neu war die Rinne. Ähnlich wie bei den Altären der Azteken. Wo das Opferblut abfloss.
    „Liebe Freunde. Wir sind heute zusammen-gekommen, um den Wächter zu ehren. Der da über uns wacht, in guten und in schlechten Zeiten.“
    „ Amen.“
    „ Und wir alle wissen, wie schlecht die Zeiten sind, nicht wahr?“
    „ Amen.“
    „ Ja meine Brüder, schlechte Zeiten. Aber es gibt ein Heilmittel, nicht wahr?“
    „ Amen.“
    „ Wir müssen den Wächter besänftigen. Und es gibt nur einen Weg, wie wir das tun können.“
    „ Blut.“
    „ Richtig. Es muss ein Leben gegeben werden, um Leben zu spenden. Blut für den Wächter. So steht es geschrieben.“
    Der Hohepriester wälzte keine Bibel, er wälzte die Seiten eines Drehbuches. Televangelismus, die Kommerzialisierung des Glaubens. Ein Scheinwerferspot wurde auf das Publikum gerichtet. Er durchpflügte die Reihen langsam von links nach rechts, von oben nach unten. Manchmal verweilte er länger auf einem Gesicht, und man konnte den Angstschweiß sehen, der der Person aus den Poren trat. Wie ihre Gesichter versteinerten. Und plötzlich verweilte er nicht, sondern heftete sich an den Zügen eines Jungen fest. Als er merkte, dass das grelle Licht ihm galt, und sich tausende Gesichter hungrig in seine Richtung drehten, rutschte ihm das Herz in die Hose. Noch bevor er einen Fluchtversuch unternehmen konnte, wurde er von mehreren starken Armen gepackt. Schreiend und um sich schlagend wurde er auf die Bühne gezogen. Das war nun sein großer Auftritt.
    „Gesegnet seiest du im Namen des Wächters, Amen.“
    Der Junge trat mit dem Fuß aus, eine Monstranz fiel um.
    „Könnt ihr denn das Balg nicht richtig festhalten oder was?“
    Mit dem gewohnten Griff eines Schlachters durchtrennte er die Kehle des Jungen. Dabei wurde er auch selbst mit Blut bespritzt. Wunderbares, lebendiges Blut. Die Quelle allen Lebens. Er tauchte seine Finger darin ein und zog dicke Balken unter seine Augen. Kriegsbemalung für einen Stamm von Kriegern. Denn waren sie das nicht alle? Das war auch der Grund, warum der Wächterkult dem christlichen Glauben so schnell den Rang abgelaufen hatte. Die Menschen wollten zurück zu etwas Archaischem. Einfache Werte, an die man glauben konnte. In einer informationsüberfluteten Welt, wo man mehr wusste als andere Generationen davor und sich doch weniger verstand. War Gott nicht austauschbar?
    „Dies ist das Blut des Wächters, das für euch gegeben wird. Nehmet es und labet euch daran.“
    Die Gläubigen traten in Grüppchen vor um ihre heilige Kommunion zu empfangen. Dabei taten sie es dem Priester gleich und malten sich Blutbalken unter die Augen.
     
    *
     
    Schweißgebadet strampelte ich mich aus einem dunklen Traum. In dem Besucherstuhl, vorne am Fenster, saß Mister Chase, die Augen hinter seiner undurchdringlichen Sonnenbrille verborgen. Er wischte sich ein Stück imaginären Staubs vom Anzug.
    „Ganz schön dreckig bei Ihnen, Sir. Ich werde den Reinigungsdienst informieren.“
    „ Mister Chase, sie töten Menschen in meinem Namen!“
    „ Nun, sie sind ein urbaner Mythos geworden.“
    „ Das habe ich nie gewollt!“
    „ Es geht nicht darum, was sie wollen, sondern darum, was das Beste für das Allgemeinwohl ist.“
    „ Was habe ich mit dem Allgemeinwohl zu tun?“
    „ Die Menschen da

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