Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
weg und ging hinter Henry Moores liegender Frau in Deckung. Mein Herz schlug so laut, dass ich befürchtete, sie könnten es hören. Was, wenn sie bei ihrem Rundgang die Plastik näher betrachten wollten? Ich war verloren.
Aber sie verließen den Saal in großer Eile und entdeckten mich nicht. Offensichtlich hatte ihr Interesse ausschließlich dem Gemälde gegolten, das neben Isabel hing. Meine Isabel hatte an Bacons Isabel kaum einen Blick verschwendet. Und dieser Angeber hatte es gewagt, Bacon einfach Francis zu nennen, als wäre er ein alter Saufkumpan! Aber vielleicht hatte ich ja nur etwas überhört. Ich hockte noch hinter dem Sockel der Skulptur, zitternd vor Wut und Eifersucht, als Lohmeier und Isabel schon längst verschwunden waren. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Versuchte klar zu denken und einen Plan zu fassen. Es gelang mir nicht. So schockgefroren, wie ich mich fühlte, konnte ich nur bleiben, wo ich war.
Eine Szene blitzte in meiner Erinnerung auf: Henry Moore und Francis Bacon, Ehrengäste auf einem großen Empfang im Savoy . Eine Gruppe von jungen Männern erweckt Bacons Interesse.
»Lass uns dort hinübergehen«, sagt Bacon.
»Ich glaube, ich bleibe lieber noch ein paar Minuten, wo ich bin«, sagt Moore.
»Du bleibst meistens da, wo du bist, nicht wahr, Henry?«, sagt Bacon und entfernt sich mit schnellen Schritten.
Das sollte ich jetzt auch tun. Jeden Moment konnte ein Wärter kommen und den hinter einer Frau aus Stein kauernden Mann äußerst verdächtig finden. Außerdem begannen meine Oberschenkel zu brennen. Also rappelte ich mich hoch, vollführte ein paar Kniebeugen und floh aus dem Saal. Rannte die Stufen hinunter, als wären Gespenster hinter mir her.
Endlich im Freien, setzte ich mich auf eine Bank am Millbank Pier und holte meine Regenjacke aus dem Rucksack. Es war ein warmer, trockener Frühlingsnachmittag, aber mich fröstelte. Ich zog den Reißverschluss bis zum Hals zu und schaute auf die Themse. Das war doch die Themse, und nicht der Styx, oder? Das hier war London, und nicht eine Stadt in den Wolken. Es war der 12. April 2004, kein Datum in der Traumzeit. Ich konnte nicht einfach aufwachen. Das hier war die Wirklichkeit. Ich war hier, und Isabel war hier. Mit einem neuen Mann. Dieser Mann hatte mir nicht nur Isabel weggenommen, er maßte sich auch an, über Bacon zu sprechen. Das konnte ich nicht einfach hinnehmen. Ich musste etwas unternehmen!
Die Frage war nur: was. Als ich in Gedanken die möglichen Varianten durchspielte, verließ mich rasch wieder der Mut. Nach ihnen suchen, sie aufspüren, ihnen eine Szene machen? Nun ja, das konnte zu meinen Ungunsten ausgehen. Sie aus seinen Klauen befreien und entführen? Die Möglichkeit, dass Isabel damit nicht einverstanden wäre, konnte nicht ganz ausgeschlossen werden. Die einzige angemessene Reaktion wäre gewesen, ihn zum Duell zu fordern. »Genugtuung!«, würde ich rufen und ihm meinen Handschuh vor die Füße werfen, »Satisfaktion!« Ich sah mich im Morgengrauen einen düsteren Waldweg entlangschreiten, gekleidet in meinen edelsten Gehrock; Nebelschwaden zogen durchs Unterholz, ein Käuzchen schrie, als wir uns auf der Lichtung endlich Aug in Aug gegenüberstanden. Das Zucken seiner Lider verriet seine Angst.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte jemand. Ich reagierte nicht. In wichtigen Augenblicken des Lebens darf man sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen.
Die Sekundanten öffneten die Schatullen, wir entnahmen die silbrig glänzenden Revolver und drehten uns um 180 Grad um die eigene Achse. In abgezählten Schritten entfernten wir uns voneinander. Ich entfernte mich von meiner Schmach und mein Widersacher von seinem Leben. Der Perlmuttgriff der Waffe lag schwer in meiner Hand. Als ich mich nach dem zwanzigsten Schritt umdrehte und abdrückte, durchströmte mich die Gewissheit, mein Ziel nicht verfehlt zu haben …
»Entschuldigen Sie, Sir, möchten Sie an Bord kommen?«
Ein paar Sekunden lang bedauerte ich es sehr, im falschen Jahrhundert zu leben.
»Nein, Sir«, sagte ich. Der Hurricane Clipper legte ohne mich ab.
In meiner Lage war es besser, zu Fuß zu gehen.
So ging ich also mit raschen Schritten von Millbank Richtung Westminster die Themse entlang, bis mir wieder ein wenig wärmer wurde. Es war Zeit, die Vernunft ins Spiel zu bringen. Was wusste ich? Lucian war natürlich Lucian Freud, aber um welches Bild es sich handelte, hatte ich nicht erkennen können. Und obwohl sich Lohmeier und Isabel
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