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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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versöhnlichen Ausgang der Orestie blieben die Eumeniden für Bacon die wahren Herrinnen einer sinistren Welt, in der die Menschheit ihr kurzes, sinnfreies Dasein zwischen Geburt und Tod zu fristen gezwungen ist. Das apollinische Licht kann die Finsternis des Kreatürlichen niemals überwinden. Wie eine der Glühbirnen in Bacons Bildern vermag es nur das Verlies auszuleuchten, in das die Körper geworfen sind. Die dionysische Lust ist ihr einziger – wenn auch ephemerer – Trost. »Birth, and copulation, and death – that’s all, that’s all, that’s all!« – einer von Bacons Trinksprüchen, geliehen aus dem unerschöpflichen Fundus von T.S. Eliots Sweeney Agonistes .
    Die Empörung, die das Triptychon hervorgerufen hatte, lag jedoch nicht an den Figuren allein. Der Titel war eine Provokation. Hier gab es weit und breit keine Kreuzigung. Keine Spur war zu sehen von Christus und den beiden Schächern. In den Raum, der die Eumeniden einschloss, drang kein Lichtstrahl, kein Schatten von außen. Die Rachegöttinnen saßen in Wahrheit nicht am Fuße der Kreuzigung, sie besetzten den Platz des sich opfernden Jesus, verdrängten ihn, stellten die Gültigkeit der Heilsgeschichte in Frage. Das war der Kern von Bacons Revolte.
    Schaut her, sagen die Furien, hier ist niemand außer uns. Es wird keine Kreuzigung geben. Es gibt Qual, es gibt gepeinigtes Fleisch, es gibt den Aufschrei der Kreatur, sonst nichts. Es gibt keinen Gottessohn, der sich für euch geopfert hat. Niemals werdet ihr erlöst sein.

 
    Zwanzig
     
    Und nun, fast sechzig Jahre später, stand ich vor den Furien und fürchtete mich. Als wären sie eben unter Lärm und Getöse, schrille Schreie ausstoßend, in den Ausstellungsraum der Tate eingezogen, um mich, ihr nächstes Opfer, aufzuspüren und zu zermalmen – so saßen sie da und reckten ihre Hälse nach mir. Ich ging trotzdem näher hin. Wollte mich versichern, dass zwischen ihnen und mir Glasbarrieren angebracht waren, die ihren Ausbruch verhinderten. Auch die Goldrahmen, deren Patina auf eine gewisse Dauer ihrer Gefangenschaft hinwies, beruhigten mich.
    Die linke Eumenide kauerte auf einem Drahtgestell; phosphoreszierende hellorange Streifen zogen sich über das Laken, in das sie gehüllt war. Oder das an ihr festgenäht war: Eine lange gekrümmte Wunde, schwarz verschorft, bildete die Verbindung zwischen Tuch und Körper. Die Stummelflügel, die aus dem herzförmigen grauen Rücken wuchsen, erinnerten an die harmlos wirkenden Ärmchen des Tyrannosaurus Rex. Ging man ganz nahe heran, so sah man, dass der linke Flügelansatz von schwarzen Punkten umsäumt war – wie Nagelköpfe sahen sie aus; als hätte der Maler den Stummel mit einer Rosette aus Nägeln am Rumpf befestigt.
    Ihr Kopf war das exakte Abbild eines Fotos von Eva Carrière, eines berühmten Mediums, das Baron von Schrenck-Notzing zu seinem Lieblingsmodell erkoren hatte. Der Baron hatte 1920 ein Buch veröffentlicht, in dem er behauptet hatte, Materialisationsphänomene fotografisch erfassen zu können. Das Medium wurde wenig später des Betrugs überführt. Der Bildband überdauerte in Bacons Atelier.
    Die mittlere Furie stand auf dünnen Storchenbeinen über einem Hocker. Orangefarbene Schlieren hafteten an ihren gebleckten Zähnen wie Reste von schlampig aufgetragenem Lippenstift. An ihrem Hals waren Spuren von blauen Linien; Adern, die vor Anstrengung hervortraten. Die Zipfel des Tuchs, mit dem ihre Augen verbunden waren, hingen lose herab, ohne ihr Gesicht zu berühren. Erst in der Distanz oder in der Reproduktion verschmolz das Tuch zu einer Einheit.
    Das einzige Bein der rechten Figur war in ein Stück Gras inmitten der Zelle gerammt. Ihre Kiefer waren weit aufgesperrt; die Augen waren von Knorpelmasse überwachsen. Ihr Gaumensegel führte ein Eigenleben: ein winziger Dämon, mitten im Maul.
    Das Orange des Bildhintergrunds veränderte seine Intensität. Ich dachte zuerst, meine Augen wären ermüdet von dem Ansturm, den sie zu bewältigen hatten. Oder war das Orange lebendiges, atmendes Ektoplasma? Bemerkte aber dann, dass die Lichtinstallation im Ausstellungsraum in regelmäßigen Abständen heller und dunkler wurde. Vielleicht gab es ja in der Tate einen alteingesessenen Geist, der Tag und Nacht konstant an den Dimmern drehte.
    War das Licht heller, verlor die Hintergrundfarbe ihre Intensität; die Furien wirkten dafür umso plastischer. Bei schwächerem Saallicht entwickelte das Orange eine überirdische Leuchtkraft, und die

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