Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
Vom Netzwerk:
den Rachen fuhr, die Speiseröhre hinunter, und sich an meinem Magen festbiss.
    Nachts ging ich oft auf den Balkon und suchte die Wega.
    Der Parkettboden glänzte, ich wischte ihn täglich, er war präpariert für ihren Auftritt. Wenn sie aus dem schmutzigen Regen draußen, aus der Welt des kurzfristigen Irrtums, zu mir hereinstürmen würde, wäre alles bereit. Ein Boden, der beide trägt, für immer.
    Ich saß und trank und aß und wartete. Gelegentlich fasste ich Mut und griff mir ein Buch. Hier waren sie doch, meine privaten Gegenwelten, jahrzehntelang durchstreunt, gesicherte Hochplateaus für den Flüchtling aus den Niederungen des Alltäglichen. Ich musste nur wieder dort hinauf, schon wäre ich gerettet! Doch beim Lesen verlor ich rasch den Halt, rutschte auf den Sätzen aus, kollerte über Absätze hinweg und kam erst auf dem Grund der Seite zum Liegen. Dort lag ich dann, auf dem Rücken; Ärmchen und Beinchen zappelten dem fernen Himmel entgegen. Kletterte über einzelne aus den Textblöcken ragende Wörter wieder nach oben, hielt mich kurz fest an einer wundervollen Wendung, zog mich hoch an einem Bild, war wieder ganz oben, bereit für den kontrollierten Abstieg, schön langsam, ein Schritt, ein Gedanke nach dem anderen, doch schon brach wieder ein Stein weg, und eine Lawine aus Geröll riss mich zurück ins Tal.
    Das einzige Buch, das ich noch verstehen konnte, war Isabel Valentins Der Einbruch des Entsetzens . Zumindest der Titel leuchtete mir ein.
     
    Irgendwann begann ich mir ihre Filme anzusehen. Zum ersten Mal allein, aber was konnte mir noch passieren? Durchseucht von Erinnerungen war ich sowieso.
    Manche Bilder verfolgten mich bis in die Träume. Coppolas Dracula . Winona Ryder und Gary Oldman streicheln den weißen Wolf, in seinem Fell berühren sich ihre von schwarzen Handschuhen verhüllten Hände zum ersten Mal. Schnitt. Mina trinkt schwarzes Blut aus der Brust des Vampirs, er verheißt ihr ewiges Leben, sie schwört ewige Treue. Schnitt. Mina hackt dem Grafen den Kopf ab. Fertig. Nachspann, Aufwachen.
     
    In einer strahlenden Novembernacht erlitt ich einen unkontrollierbaren Anfall von Zahlenmystik und sah mir hintereinander The Fifth Element , The Sixth Sense und Seven an. Saß danach lang auf dem Balkon, in unsere Fernsehdecke gewickelt, suchte ihre Haare in der Wolle und nähte mit ihnen die Sterne zu Achtern zusammen. Als es dämmerte, landeten Bruce Willis und Milla Jovovic in einem sardinendosenartigen Raumschiff auf der Brüstung und brachten mir Isabel zurück, den Händen des Todsündenmörders im letzten Augenblick entrissen. Ich versuchte sie zu küssen, aber es ging nicht. Ich war schon tot.
     
    Mittags Frühstück. Zwieback, Kamillentee, Zeitung wegwerfen. Abends Bier und saudade , die Sehnsucht, angerichtet mit ausençia , der Abwesenheit. Einzelne Wörter, herausgefischt aus Isabels Langenscheidt-Bänden, verstand ich ja noch. Verlorengegangen waren mir nur die Zusammenhänge.
     
    Es klingelte. Ich öffnete die Tür. Da war sie.
    Raus aus den Schuhen, schneidige Bewegung, in vollendeter Flugbahn landen die Pumps am unteren Ende der Parabel, auf dem Fernseher. Mantel weg, Arme hochgefahren, auf meine Schultern zu, Lippen, aufgeplatzt vor Reue, nach meinen schnappend, ja, ist ja gut, Isabel, ich verzeihe, alles ist gut, jetzt, wo wir wieder sind, wie wir immer waren, unentzweibar, festgeschmiedet aneinander, abgeschottet von den Unwägbarkeiten der äußeren Welt –
     
    Nach derlei Erscheinungen hielt ich den Kopf meist unter kaltes Wasser, bis meine Halsschlagadern zu vereisen drohten. Zwei Bier noch, mindestens zwei Valium. Nicht drei, denn sie könnte ja kommen, morgen früh. Da musste ich dann wach sein, richtig wach.

 
    Fünf
     
    An meinem Geburtstag rief Isabel an.
    Ich war nicht überrascht. Isabel liebte bestimmte Konventionen, an die sie sich unbeirrbar hielt, selbst wenn ihre ganze Welt aus den Fugen geraten war. Sie besaß ein kleines kobaltblaues Notizbuch, in das die Geburtstage sämtlicher Menschen, die ihr das Datum verraten hatten, eingetragen waren. Völlig unerheblich, ob sie die Personen mochte oder nicht: An ihren Geburtstagen wurden sie angerufen. Meinem Vater, den Isabel nicht ausstehen konnte, hatte sie einmal am Tag nach einem entsetzlichen Streit gratuliert, als wäre nichts geschehen. Auch Leute, mit denen sie während des Jahres kaum Kontakt hatte, entgingen den Glückwünschen nicht. Das Notizbuch war voll, und so verstrich kaum ein Tag, an

Weitere Kostenlose Bücher