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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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dem Isabel nicht irgendeine Nummer anrief und dem oft verblüfften Gegenüber ihre herzlichsten Geburtstagswünsche darbrachte. Über das tiefere Geheimnis dieses Rituals war ihr nichts zu entlocken; fragte ich danach, bekam ich einen Satz zu hören, der übersetzt lautete: Lass mich damit ja in Ruhe. In Isabels Sprache hieß das: »So bin ich eben.« Auf rätselhafte Weise korrespondierte dieser Geburtstagskult mit einer Besessenheit vom Tod. Wenn es mit jemandem zu Ende ging, erwachte in Isabel eine fast wütende Fürsorge, die zwar vordergründig dem Todgeweihten galt, in Wahrheit aber durch ihn hindurchging. Vorübergehend hatte sie sogar in einem Sterbehospiz gearbeitet; in dieser Zeit sah ich sie kaum noch. Sie verbrachte ihre Nächte im Hospiz, ich in Bars. Dann kam, völlig überraschend, der Moment, in dem ihr klarwurde, dass sie sich zu verlieren drohte. Sie kündigte, und als ich sie, in der Hoffnung, schöne Sätze über die Priorität unserer Ehe zu hören, nach dem Grund dafür fragte, sagte sie nur: »So bin ich eben.«
    Als mein Vater im AKH rettungslos an seinen Schläuchen hing, war es Isabel, die ihn Tag für Tag besuchte. Sie saß am Bett eines Mannes, dessen haltloses, sämtlichen Süchten anheimgefallenes Leben sie zutiefst verachtete, des Mannes, dem sie die Schuld an der Verkorkstheit und Lebensuntüchtigkeit seines Sohnes gab, und erzählte ihm mit entrückter Stimme Geschichten aus ihrem Leben, die sie mir stets verschwiegen hatte.
    Im Augenblick seines Todes waren wir beide bei ihm. Als das Röcheln aufhörte und die Augen nach hinten kippten, das Gesicht binnen Sekunden von einem wächsernen Gelb überzogen wurde, heulte Isabel auf, als hätte sie ein Speer in die Flanke getroffen.
    Endlich zu Hause, musste sie dann noch telefonieren. Ein Cousin ihres ehemaligen Chefs hatte Geburtstag.
    Vielleicht war es so: Wie kein anderer Mensch, den ich kannte, war Isabel verstört vom bloßen Faktum der verrinnenden Zeit. Für sie war die Tatsache, dass es eine Kraft gab, die sich allen Sinnen entzog und dennoch unweigerlich zu deren Auslöschung führte, ein himmelschreiender Skandal, eine pure Bösartigkeit der Schöpfung. »Beeil dich bitte«, pflegte sie zu sagen, »die Zeit vergeht, und du merkst es nicht.« Dabei wollte ich nur mein Schuhband sorgfältig binden oder die Schuppen von meinem Jackett klopfen, bevor wir essen gingen oder in einen ihrer Clubs. Eine Angelegenheit von ein paar Sekunden. Eine leere Ewigkeit für Isabel. Ihre Ungeduld war nicht launenhaft oder herrisch, sie war durchtränkt von einer Angst, die sie durchs Leben hetzte. Ich dachte lange, sie erlebe die Zeit als Sturm, der ihr von vorne ins Gefieder blies und sie nach hinten wehte, wo sie doch nichts mehr wollte, als voranzukommen und die Trümmer zu ordnen. Die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen . Seit ich Isabel kenne, habe ich mir Benjamins Engel der Geschichte nicht mehr ohne ihr Gesicht vorstellen können, auch wenn ich dafür nur Kopfschütteln erntete. »Darum geht es doch nicht«, sagte sie einmal müde, als ich ihr die Passage vorgelesen hatte, »verstehst du das denn nicht, Arthur? Es gibt keinen Sturm.« Ich verstand es nicht, sie wollte kein Wort mehr darüber verlieren, und so wurde es ein Abend zwischen zwei Fremden, die sich das Bett teilen mussten. Und irgendwann den unteilbaren, unmitteilbaren Tod.
    Isabels Angst war auch keine Spielart des hysterischen Hedonismus, der in ihrer Clique so verbreitet war. Es ging ihr nicht darum, möglichst viel zu erleben, bevor es vorbei war. Einen Freund, der ihr bei einem dieser Gesellschaftsspiele, denen sie paradoxerweise gerne stundenlang beiwohnte – Charade oder chinesisches Roulette – , als Lebensmotto »Carpe diem« in den Mund gelegt hatte, würdigte sie danach keines Blickes mehr.
    »Was soll das heißen, nütze den Tag«, sagte sie, als wir endlich zu Hause waren, »morgen ist der Tag vorbei, ob wir ihn nützen oder nicht.«
    »Na ja«, sagte ich und zog ein bisschen an einem der Spaghettiträger, kardinalrot, die ihre hinreißenden Schlüsselbeine im Hier-und-Jetzt überwölbten.
    »Ach, Arthur«, sagte Isabel, schob meine Hand weg, zog ihren Pyjama an und vergrub sich in ihren Teil des Doppelbetts.
    Sie fluchte noch ein wenig vor sich hin, bevor sie einschlief, während ich den zu Ende gehenden Tag zu nützen versuchte. Es gab noch einen Tatort im WDR, einen zeitlosen Chateau Margaux und die stets griffbereiten Schlusssätze aus dem Tod des

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